Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 430
Krankheitsbedingte Fehlzeiten können je nach Ausgestaltung der Anspruchsvoraussetzungen die Gratifikation dem Grund und/oder der Höhe nach beeinflussen.
(1) Grundsatz
Rz. 431
Auch eine lang andauernde krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers führt nicht automatisch zur Minderung der Gratifikation oder gar zum Ruhen eines Arbeitsverhältnisses. Ein Ruhen des Arbeitsverhältnisses liegt nur dann vor, wenn die wechselseitigen Hauptpflichten (Arbeitsleistung und Vergütung) suspendiert sind und der jeweilige Gläubiger von seinem Schuldner die Erbringung der Leistung nicht verlangen und nicht durchsetzen kann, während die Nebenpflichten weiter bestehen. Bei der durch krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers herbeigeführten Verhinderung zur Arbeitsleistung liegt jedoch im Allgemeinen keine durchgehende wechselseitige Suspendierung der Hauptpflichten eines Arbeitsverhältnisses vor. Vielmehr handelt es sich um eine Leistungsstörung i.S.d. allgemeinen Schuldrechtes des BGB, die abweichend von den bürgerlich-rechtlichen Bestimmungen der §§ 275, 326 BGB teilweise arbeitsrechtlich (§ 3 EntgFG, § 616 BGB) und teilweise sozialrechtlich (§§ 44 ff. SGB V) zugunsten des arbeitsunfähigen Arbeitnehmers gesetzlich gelöst worden ist (BAG v. 11.10.1995 – 10 AZR 985/94: Metallindustrie; BAG v. 9.8.1995 – 10 AZR 539/94). Allein aus der Einstellung der Arbeit infolge dauernder Arbeitsunfähigkeit und der Einstellung der Entgeltleistung durch den Arbeitgeber kann nicht ohne weitere ausdrückliche oder konkludente Erklärungen der Parteien auf eine Ruhensvereinbarung geschlossen werden. Auch die Bewilligung einer Erwerbsunfähigkeitsrente auf Zeit führt ohne Anhaltspunkte für eine entsprechende Vereinbarung der Parteien nicht automatisch zum Ruhen des Arbeitsverhältnisses (BAG v. 8.7.1998 – 10 AZR 404/97; BAG v. 11.10.1995 – 10 AZR 985/94; BAG v. 7.6.1990 – 6 AZR 52/89).
Rz. 432
Allerdings nimmt das BAG an, dass ein rechtlich an sich fortbestehendes Arbeitsverhältnis tatsächlich nur noch formaler Natur und damit ein Anspruch ausgeschlossen ist, wenn nach dem Willen und den Vorstellungen beider Parteien keine rechtliche Bindung im Hinblick auf eine Wiederaufnahme des bisherigen Arbeitsverhältnisses anzunehmen ist. Davon ist nach dem BAG auszugehen, wenn ein Arbeitnehmer bei langjähriger, auf nicht absehbare Zeit fortbestehender Arbeitsunfähigkeit nach Aussteuerung durch die Krankenkasse sich arbeitslos meldet und die Zahlung von Arbeitslosengeld beantragt und der Arbeitgeber auf Anfrage der Arbeitsagentur auf seine Verfügungsgewalt ggü. dem Arbeitnehmer verzichtet, um diesem den Bezug von Arbeitslosengeld zu ermöglichen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt ist davon auszugehen, dass eine Wiederaufnahme des bisherigen Arbeitsverhältnisses nicht mehr in Betracht kommt und auch die Zahlung einer Sondervergütung ausscheidet (BAG v. 15.3.2000 – 10 AZR 115/99; BAG v. 11.2.1998 – 10 AZR 264/97; BAG v. 12.11.1997 – 10 AZR 74/97; BAG v. 10.4.1996 – 10 AZR 600/95; BAG v. 28.9.1994 – 10 AZR 805/93; vgl. auch BAG v. 24.9.2003 – 5 AZR 591/02). In diesem Fall kann vermutet werden, dass die Parteien zumindest stillschweigend das Ruhen des Arbeitsverhältnisses vereinbart haben (BAG v. 9.8.1995 – 10 AZR 944/94; BAG v. 28.9.1994 – 10 AZR 805/93).
Rz. 433
Liegt allerdings eine ausdrückliche tarifliche Regelung vor, wonach auch erkrankte Arbeitnehmer von der Gewährung einer Gratifikation nicht ausgeschlossen sind, haben auch langfristig erkrankte Arbeitnehmer, die nach Aussteuerung durch die Krankenkasse Arbeitslosengeld beziehen, Anspruch auf die tarifliche Sonderzahlung (BAG v. 24.1.2001 – 10 AZR 672/99; LAG Hamm v. 4.12.1998 – 10 Sa 1306/98).
(2) Differenzierung je nach Vereinbarung
Rz. 434
Bei der Frage, inwieweit eine fehlende Arbeitsleistung eines Arbeitnehmers im Bezugszeitraum oder die fehlende Anwesenheit im Betrieb sich auf einen Anspruch auf eine Sonderzahlung oder Gratifikation auswirken, ist wiederum zwischen Sonderzahlungen mit reinem Entgeltcharakter und Gratifikationen mit Mischcharakter und Sonderzahlungen, die ausschließlich an die Betriebstreue eines Arbeitnehmers anknüpfen, zu unterscheiden.
(a) Arbeitsleistungsbezogene Sonderzahlung
Rz. 435
Liegt eine arbeitsleistungsbezogene Sonderzahlung vor, folgt bereits aus dem Synallagma zwischen Arbeitsleistung und Arbeitsvergütung (§§ 275, 326, 611a BGB), dass Fehlzeiten, für die ein Lohn- oder Gehaltszahlungsanspruch nicht besteht, die Sonderzahlung entsprechend mindern, und der Arbeitgeber berechtigt ist, die Gratifikation für den Zeitraum von Fehltagen ohne Entgeltfortzahlung im Verhältnis zur möglichen Gesamtarbeitszeit zu kürzen. Einer besonderen Kürzungsvereinbarung bedarf es insoweit nicht (BAG v. 21.3.2001 – 10 AZR 28/00; BAG v. 5.8.1992 – 10 AZR 88/90; LAG Rheinland-Pfalz v. 22.2.2017 – 4 Sa 460/15). Wird gleichwohl eine solche vereinbart, hat sie lediglich klarstellende Funktion.
Rz. 436
Fehlt eine Kürzungsabrede, kann die Sonderzahlung nur proportional i.H.v. 1/220 pro Fehltag gekürzt werden. Ist eine Kürzungsabrede vorhanden, so bestimmt sie im Regelfall ...