Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 716
Individuell ausgehandelte Vertragsbedingungen sind keiner AGB-rechtlichen Kontrolle nach den §§ 305 ff. BGB mehr unterworfen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 305 BGB, der das Vorliegen einer AGB fordert. Auch eine analoge Anwendung der Vorschriften des AGB-Rechts ist nicht mehr möglich (BAG v. 25.5.2005, NJW 2005, 3305, 3309). Dies folgt auch aus dem Wegfall der Bereichsausnahme für das Arbeitsvertragsrecht und der damit einhergehenden exklusiven Erstreckung des Anwendungsbereiches des AGB-Rechts auf Arbeitsverträge.
Rz. 717
Es verbleibt damit bei einer reinen Rechtskontrolle für Individualvereinbarungen. Im Ergebnis ist damit von einer Vermehrung der Vertragsfreiheit auszugehen, nämlich dort, wo Vertragsbedingungen keinen vorformulierten Bestandteil des Arbeitsvertrages bilden (Thüsing/Leder, BB 2005, 938, 941; Thüsing, AGB-Kontrolle im Arbeitsrecht, Rn 44). Für die praktische Rechtsanwendung bedeutet dies konkret, dass sämtliche Rechtsinstrumente zur Angemessenheitskontrolle arbeitsvertraglicher Vereinbarungen für individuell ausgehandelte Klauseln nicht mehr zu prüfen sind. Dies ist auch der Standpunkt der Rspr., wenn sie hervorhebt, dass eine individuell ausgehandelte Ausschlussfrist keiner allgemeinen Billigkeitskontrolle nach § 242 BGB unterliegt (BAG v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, NJW 2005, 3305, 3309). Bei der Angemessenheitskontrolle stellen die §§ 305 ff. BGB eine abschließende Konkretisierung des Gebotes von Treu und Glauben hinsichtlich einer allgemeinen, allein den Inhalt einer Regelung überprüfenden Angemessenheitskontrolle dar.
Rz. 718
Besteht nämlich für die Vertragspartner die Möglichkeit, die Vertragsbedingungen im Einzelnen auszuhandeln, so ist nach der Rspr. im Grundsatz davon auszugehen, dass sie ihre Interessen selbst angemessen vertreten konnten. Deswegen sind die Parteien eines Vertrages bis zur Grenze der Rechtskontrolle frei, ihre Regelungen selbst zu wählen. Nutzt dagegen der Arbeitgeber seine wirtschaftliche Überlegenheit gegen den Arbeitnehmer in der Weise aus, um ein für diesen ungünstiges Verhandlungsergebnis durchzusetzen, besteht der Schutzauftrag des Richters, der Vertragsparität mit den Mitteln des Zivilrechts Geltung zu verschaffen.
Rz. 719
Eine Individualabrede liegt aber nicht schon dann vor, wenn der Arbeitnehmer in einem Einzelgespräch sein Einverständnis mit der Vereinbarung erklärt und erst danach der Vertrag mit der vereinbarten Regelung ausgefertigt wird. "Aushandeln" i.S.v. § 305 Abs. 1 S. 3 BGB bedeutet mehr als "verhandeln". Es genügt nicht, dass das gestellte Formular dem Verhandlungspartner bekannt ist und nicht auf Bedenken stößt, dass der Inhalt lediglich erläutert oder erörtert wird und den Vorstellungen des Partners entspricht. Von einem "Aushandeln" in diesem Sinne kann nur dann gesprochen werden, wenn der Verwender zunächst den in seinen AGB enthaltenen "gesetzesfremden Kerngehalt", also die den wesentlichen Inhalt der gesetzlichen Regelung ändernden oder ergänzenden Bestimmungen, inhaltlich ernsthaft zur Disposition stellt und dem Verhandlungspartner Gestaltungsfreiheit zur Wahrung eigener Interessen einräumt mit zumindest der realen Möglichkeit, die inhaltliche Ausgestaltung der Vertragsbedingungen zu beeinflussen. Er muss sich also deutlich und ernsthaft zur gewünschten Änderung einzelner Klauseln bereit erklären. In aller Regel schlägt sich eine solche Bereitschaft auch in erkennbaren Änderungen des vorformulierten Textes nieder. Allenfalls unter besonderen Umständen kann ein Vertrag auch dann als Ergebnis eines "Aushandelns" gewertet werden, wenn es schließlich nach gründlicher Erörterung bei dem gestellten Entwurf verbleibt (BAG v. 27.7.2005 – 7 AZR 486/04). Die Möglichkeit der Einflussnahme muss sich auf die konkrete Klausel beziehen. Vorformulierte Bedingungen in einem Vertragswerk, die nicht ausgehandelt werden, bleiben kontrollfähige AGB.
Rz. 720
Ist die Möglichkeit der Einflussnahme streitig, muss der Verwender nach den Grundsätzen der abgestuften Darlegungslast den Vortrag des Verwendungsgegners, er habe keine Einflussmöglichkeit gehabt, qualifiziert bestreiten, indem er konkret darlegt, wie er Klauseln zur Disposition gestellt hat und aus welchen Umständen darauf geschlossen werden kann, der Verwendungsgegner habe die Klauseln freiwillig akzeptiert (BAG v. 19.5.2010 – 5 AZR 253/09, NZA 2010, 939).
Rz. 721
Damit nimmt das BAG Bezug auf die Grundsätze der Rspr. des BVerfG zum Schutze der Privatautonomie (BVerfG v. 19.10.1993 – 1 BvR 567/89, BVerfGE 89, 214, 229; BVerfG v. 23.11.2006, NJW 2007, 286; BAG v. 9.9.2003, AP Nr. 15 zu § 611 BGB Sachbezüge).
Insofern ist nämlich die gesetzgeberische Entscheidung zu beachten, dass vorformulierte Vertragsklauseln der strengeren Kontrolle nach §§ 307 ff. BGB unterworfen werden sollen. Selbst dann, wenn man individuell ausgehandelte Arbeitsverträge nicht vom "Funktionsdefizit des Arbeitsvertrages" (Fastrich, RdA 1997, 66, 67) ausnehmen möchte, so muss es wegen der systematischen Abgrenzung...