Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 797
Mit einer ergänzenden Vertragsauslegung können Vertragslücken geschlossen werden, wenn eine von einem realen Willen getragene Regelung nicht erkennbar, eine solche Regelung aber erforderlich ist. Im Arbeitsrecht geltende Besonderheiten, die einer Anwendung dieser Auslegungsregelungen entgegenstehen könnten, bestehen nicht (LAG Hamm v. 16.4.2004, LAG Report 2005, 138). Es bleibt aber dabei, dass eine ergänzende Vertragsauslegung vor dem Hintergrund des Verbotes der geltungserhaltenden Reduktion nur unter engen Voraussetzungen möglich ist (hierzu Stoffels, Sonderbeil. zur NZA 2004, 19, 26). Für die ergänzende Vertragsauslegung ist zu verlangen, dass die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften und das Unterbleiben der Ergänzung des Vertrages keine angemessene, den typischen Interessen der Vertragsparteien Rechnung tragende Lösung bietet (BAG v. 28.9.2005 – 5 AZR 52/05, NZA 2006, 149, 153; BAG v. 25.5.2005, NJW 2005, 3305, 3308; BAG v. 11.10.2006, BB 2007, 109, 111; BAG v. 30.7.2008, NZA 2008, 1173, 1179). Deshalb muss es an geeigneten dispositiven Gesetzesnormen zur Lückenfüllung fehlen. Eine ergänzende Vertragsauslegung setzt voraus, dass die Anwendung der gesetzlichen Vorschriften und das Unterbleiben der Ergänzung des Vertrages keine angemessene, den typischen Interessen der Vertragsparteien Rechnung tragende Lösung bietet (BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05; BAG v. 25.4.2007 – 5 AZR 627/06; BAG v. 23.9.2010 – 8 AZR 897/08, NZA 2011, 89).
Rz. 798
Wird eine Lücke festgestellt, so ist diese durch den hypothetischen Parteiwillen zu schließen. Es gilt also dasjenige, was die Parteien bei sachgerechter Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen geregelt hätten (BGH v. 4.7.2002 – VII ZR 502/99, NJW 2002, 3098, 3099; BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05). Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem gerade noch zulässigen Inhalt eines Vertrags zur Vermeidung der Unangemessenheit. Es ist deshalb zu fragen, was die Parteien vereinbart hätten, wenn ihnen die gesetzlich angeordnete Unwirksamkeit der Widerrufsklausel bekannt gewesen wäre. Maßgeblich ist nicht subjektive Vorstellung einer Vertragspartei, sondern was die Parteien bei einer angemessenen Abwägung ihrer Interessen nach Treu und Glauben als redliche Vertragsparteien vereinbart hätten (BAG v. 11.10.2006 – 5 AZR 721/05, BB 2007, 109, 112; BAG v. 11.4.2006, NZA 2006, 1042). Zur Feststellung eines solchen hypothetischen Parteiwillens ist die tatsächliche Vertragsdurchführung von erheblicher Bedeutung. Sie kann Rückschlüsse auf das von den Parteien wirklich Gewollte zulassen (BAG v. 7.12.2005, AP Nr. 4 zu § 12 TzBfG).
Rz. 799
Große Bedeutung hat diese Auslegungsregel insb. bei der Überführung von Arbeitsverträgen, die vor dem 1.1.2002 begründet worden sind, in neues Recht. Bei einem Widerrufsvorbehalt, der mangels Angabe der Widerrufsgründe im Arbeitsvertrag als unwirksam angesehen wurde, hat die Rspr. aber Vertrauensschutz in Form einer ergänzenden Vertragsauslegung gewährt (BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NJW 2005, 1820, 1822; BAG v. 11.10.2006, BB 2007, 109; BAG v. 20.4.2011, NZA 2011, 796). Da die Unwirksamkeit der Widerrufsmöglichkeit allein auf förmlichen Anforderungen beruhte, die die Parteien bei Vertragsschluss nicht hätten kennen können, greift eine Bindung der Arbeitgeberin an die vereinbarte Leistung ohne Widerrufsmöglichkeit nach Ansicht des BAG unverhältnismäßig in die Privatautonomie ein. Das Ergebnis überzeugt vor allem deshalb, weil die Annahme des mutmaßlichen Parteiwillens eine wirtschaftlich überzeugende ist. Auf diese Weise erhält sich der Arbeitnehmer nämlich eine freiwillige Leistung, wenn auch mit Widerrufsmöglichkeit für den Arbeitgeber. Es gelten dann die Widerrufsgründe, die die Vertragsparteien zugrunde gelegt hätten, wenn ihnen die gesetzlich angeordnete Unwirksamkeit der Widerrufsklausel bekannt gewesen wäre (BAG v. 12.1.2005 – 5 AZR 364/04, NZA 2005, 465; LAG Nds. v. 17.1.2006, LAGE § 308 BGB 2002 Nr. 3).
Rz. 800
Andererseits hat nunmehr das BAG entschieden, dass eine unangemessen kurze Ausschlussfrist nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB unwirksam ist und der Arbeitsvertrag i.Ü. wirksam bleibt, § 306 BGB. Für vor dem 1.1.2002 abgeschlossene Arbeitsverträge (sog. Altfälle) gilt nichts anderes. Es kommen weder eine geltungserhaltende Reduktion der unwirksamen Ausschlussklausel noch eine ergänzende Vertragsauslegung in Betracht (BAG v. 28.11.2007 – 5 AZR 992/06, NZA 2008, 293).