Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 28
Eine Tarifbindung durch Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags tritt ein, ohne dass es auf einen entsprechenden Willen der Arbeitsvertragsparteien oder auch nur auf deren Wissen ankäme (zur rückwirkenden Allgemeinverbindlicherklärung BAG v. 25.9.1996 – 4 AZR 209/95). Sie dehnt die Verbindlichkeit von Tarifverträgen auf Betriebe und Personen aus, die sonst nicht von den Normen eines Tarifvertrags erfasst würden (BAG v. 12.5.2010 – 10 AZR 559/09). Ziel einer derartigen Erklärung ist die Wahrung von Mindestbedingungen für Arbeitsverhältnisse, insb. auch in bestimmten Wirtschaftszweigen, wie dem Baugewerbe, um sog. "Dumping-Löhne" zu vermeiden. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist möglich unter den sachlichen und formalen Voraussetzungen des § 5 TVG. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist nach herrschender Meinung kein Verwaltungsakt, sondern Rechtsnorm sui generis (vgl. BVerfG v. 24.5.1977 – 2 BvL 11/74, BVerfGE 44, 322; BVerfG v. 3.11.1988, BVerfGE 80, 355; näher zur Wirksamkeit einer AVE BAG v. 21.9.2016 – 10 ABR 33/15). Sie stellt jedoch eine Normsetzung dar und ist deshalb wie ein Gesetz auszulegen (BAG v. 12.5.2010, a.a.O.). Die Allgemeinverbindlicherklärung ist im Verwaltungsrechtsstreit zwar von den am Verfahren beteiligten und von anderen betroffenen Verbänden, nicht aber von den durch sie tarifgebundenen Arbeitgebern und/oder Arbeitnehmern (den Außenseitern), überprüfbar (Mäßen/Maurer, NZA 1996, 121, 125). Dagegen kann und muss die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung im Arbeitsrechtsstreit – etwa um die Zahlung des Tariflohns – ggf. als Vorfrage geprüft werden (BAG v. 3.2.1965 – 4 AZR 385/63; BAG v. 24.1.1979 – 4 AZR 377/77; Mäßen/Mauer, NZA 1996, a.a.O. m.w.N.).
Kollidieren die individualrechtlich im Arbeitsverhältnis geltenden Regelungen eines Tarifvertrages mit denen der kraft Allgemeinverbindlichkeit normativ auf Arbeitsverhältnis einwirkenden Tarifverträgen, so gilt das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG (LAG Düsseldorf v. 2.9.2010 – 5 Sa 720/10; ausführlich zum Günstigkeitsprinzip Nebeling/Arntzen, NZA 2011, 1215 f.).
Rz. 29
Es kommt häufig vor, dass nur einzelne Tarifverträge einer Branche für allgemeinverbindlich erklärt werden und auch diese manchmal nur teilweise (krit. hierzu: Wiedemann/Wank, TVG, § 5 Rn 65 ff.). Der inhaltliche Umfang der Allgemeinverbindlicherklärung ergibt sich aus dieser selbst. Sie ist mit all ihren Details im BAnz. zu veröffentlichen (diese Veröffentlichungen sind unter http://www.bmas.de/DE/Themen/Arbeitsrecht/Tarifvertraege/inhalt.html zu finden).
Rz. 30
Beispiel
So ergibt sich zumindest aus der im BAnz. v. 1.12.1992 (Nr. 225, S. 8974) veröffentlichten Allgemeinverbindlicherklärung des Rahmentarifvertrags für gewerbliche Arbeitnehmer im Maler- und Lackiererhandwerk der BRD vom 17.11.1992, dass die Lohntarifverträge, die in § 16 des Rahmentarifvertrags in Bezug genommen werden, an der Allgemeinverbindlichkeit des Rahmentarifvertrages nicht teilhaben. In der Bekanntmachung der Allgemeinverbindlicherklärung heißt es ausdrücklich, dass es dazu einer die Lohntarifverträge selbst betreffenden Allgemeinverbindlicherklärung bedürfte. Eine solche fehlt (zu den Voraussetzungen des konstitutiven Einbezuges eines Tarifwerkes in ein anderes vgl. BAG v. 2.3.1988 – 4 AZR 600/87; BAG v. 10.11.1993 – 4 AZR 316/93; LAG Hamm v. 6.9.1996 – 5 Sa 875/95, n.v.).