Dr. iur. Martin Nebeling, Manfred Ehlers
Rz. 6
Die Vertragsfreiheit der Parteien des Arbeitsvertrages ist auch mit Blick auf die Hauptpflichten insb. dann erheblich eingeschränkt, wenn das Arbeitsverhältnis dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages unterliegt. Gem. § 1 Abs. 1 TVG besitzen Regelungen eines Tarifvertrages, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen ordnen, den Charakter von Rechtsnormen. Diese ihrerseits prüft das BAG grds. nicht auf inhaltliche Billigkeit, sondern nur auf Verstöße gegen höherrangige Rechtsnormen (vgl. BAG v. 6.2.1985 – 4 AZR 275/83 m.w.N.).
Rz. 7
Der gesetzlichen Einteilung entsprechend werden sog. Inhaltsnormen, Abschlussnormen und Beendigungsnormen eines Tarifvertrages unterschieden. Gem. § 4 Abs. 1 TVG wiederum gelten diese Rechtsnormen unmittelbar und zwingend zwischen den beiderseits Tarifgebundenen, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen. Wegen § 4 Abs. 3 TVG sind abweichende Vereinbarungen nur zulässig, soweit sie entweder vom Tarifvertrag – durch eine entsprechende Öffnungsklausel – gestattet sind oder sie eine Abweichung zugunsten des Arbeitnehmers enthalten. Die Befugnis der Tarifvertragsparteien zu solcherart Rechtssetzung folgt aus Art. 9 Abs. 3 GG. Das TVG stellt ihre einfachgesetzliche Absicherung dar.
Rz. 8
Im Geltungsbereich eines Tarifvertrages liegt der Inhalt eines Arbeitsvertrages damit nach Maßgabe der tariflichen Regelungen in der Form von Mindestarbeitsbedingungen fest. Deren einzelvertragliche Unterschreitung ist rechtsunwirksam. I.d.S. ist die individuelle Vertragsfreiheit begrenzt.
1. Entstehung von Tarifbindung
Rz. 9
Voraussetzung für den Vorrang des Tarifvertrages ggü. individualvertraglichen Abreden ist, dass beide Parteien des Arbeitsvertrages an den Tarifvertrag gebunden sind. Tarifbindung mit der Folge des normativen – zwingenden – Vorranges des Tarifvertrages kann nur auf folgende Weise entstehen:
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Es sind beide Arbeitsvertragsparteien jeweils Mitglied der beiden Tarifvertragsparteien, d.h. der Arbeitnehmer ist Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft, der Arbeitgeber ist Mitglied des entsprechenden Arbeitgeberverbandes oder selbst Partei des Tarifvertrages, §§ 3 Abs. 1, 2 Abs. 1 TVG (eine Besonderheit gilt für sog. "AT-Angestellte") oder |
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es ist der betreffende Tarifvertrag nach Maßgabe des § 5 Abs. 1, Abs. 1a TVG von der zuständigen Stelle (dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales) für allgemein verbindlich erklärt worden; wegen § 5 Abs. 4 TVG erfassen seine Rechtsnormen damit für seinen Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer und Arbeitgeber (Außenseiter) und Arbeitgeber, die nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden sind. |
Rz. 10
Die bloß arbeitsvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrages führt dagegen nicht zum normativen Tarifvorrang. Sie hat lediglich die schuldrechtliche Geltung des betreffenden Tarifwerkes zur Folge. Geltungsgrund der Tarifregelungen ist in diesem Fall nicht der ihnen von Verfassung und Gesetz verliehene Normstatus. Die Geltung der Tarifregelungen beruht lediglich auf der entsprechenden einzelvertraglichen schuldrechtlichen Abrede und kann auch konkludent erfolgen (vgl. BAG v. 19.1.1999 – 1 AZR 606/98; BAG v. 17.11.1998 – 9 AZR 584/97).
Rz. 11
Tarifbindung i.S.d. TVG und vertraglicher Einbezug desselben Tarifvertrages können zusammenfallen, wenn der tarifgebundene Arbeitgeber mit allen Arbeitnehmern – mangels Kenntnis von deren Mitgliedschaft auch mit den Gewerkschaftsangehörigen – Arbeitsverträge schließt, in denen der (vorformulierte) Verweis auf den betreffenden Tarifvertrag enthalten ist. Der arbeitsvertragliche Verweis auf den Tarifvertrag hat nach der Rspr. des BAG konstitutive Wirkung (BAG v. 20.2.2002 – 4 AZR 123/01; BAG v. 19.3.2003 – 4 AZR 331/02). Dadurch gehen Tarifbindung und normativer Tarifvorrang für die Arbeitsverhältnisse der gewerkschaftsangehörigen Belegschaftsmitglieder nicht verloren (vgl. Etzel, NZA Beilage 1/1987, 19, 25).
a) Gleichzeitigkeit der Bindung
Rz. 12
Bindung an einen Tarifvertrag mit der Folge von dessen normativer Wirkung entsteht nur, wenn beide Arbeitsvertragsparteien zu einem bestimmten Zeitpunkt gleichzeitig an eben diesen Tarifvertrag gebunden waren. Lediglich sog. Betriebsnormen – Rechtsnormen des Tarifvertrages über betriebliche oder betriebsverfassungsrechtliche Fragen – gelten unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitnehmer für alle Betriebe, deren Arbeitgeber jedenfalls tarifgebunden ist, § 3 Abs. 2 TVG.
Rz. 13
Nicht erforderlich ist es, dass die Arbeitsvertragsparteien schon bei Beginn des Arbeitsverhältnisses tarifgebunden waren. Ist der Arbeitgeber bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrages oder wird er später Mitglied des tarifschließenden Arbeitgeberverbandes, ist der Arbeitnehmer dagegen kein Mitglied einer Gewerkschaft, so ist nur Ersterer tarifgebunden. Die Regelungen des Tarifvertrages entfalten mangels beiderseitiger Tarifgebundenheit i.S.d. § 4 Abs. 1 TVG keine Normwirkung für das Arbeitsverhältnis; der Arbeitnehmer hat keine Ansprüche aus dem Tarifvertrag (BAG v. 3.11.2004 –...