Rz. 75
Der "gewöhnliche Aufenthalt" wird in Deutschland als "faktischer Wohnsitz" charakterisiert, um deutlich zu machen, dass voluntative Elemente – die beim Wohnsitz so bedeutend sind – hier keine Rolle spielen. In der Tat ersetzt der EuGH das voluntative "subjektive Element" des Wohnsitzbegriffs bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts durch eher am Tatsächlichen orientierte Merkmale wie die familiäre und soziale Integration. Dennoch entkommt der EuGH auf diese Weise nicht vollständig einer Willensfeststellung.
Rz. 76
In der vom EuGH am 22.12.2010 entschiedenen Rechtssache Mercredi hatte Frau Mercredi das Kleinkind Chloe – für das sie die alleinige elterliche Sorge besaß – aus London mit dem Flugzeug nach Réunion verbracht. Der in England lebende leibliche Vater beantragte kurz darauf vor den englischen Gerichten, ihm die elterliche Sorge zu übertragen. Der Antrag wäre nur dann zulässig gewesen, wenn die englischen Gerichte aufgrund eines gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in England international zuständig gewesen wären. Der EuGH stellte hierbei – da es sich um ein Kleinkind ohne eigene soziale Integration handelte – darauf ab, ob auf Seiten der Mutter eine Beständigkeit des erst vor kurzem begründeten Aufenthalts in La Réunion gegeben sei. Der EuGH ging hier davon aus, dass trotz der Kürze des Aufenthalts auf La Réunion sich aus der Absicht der Mutter, dort dauerhaft zu bleiben, die Beständigkeit des Aufenthalts dort ergeben könne. Das ist insoweit selbstverständlich, als ein als Urlaub geplanter Aufenthalt keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann und – bei Erfüllung der Voraussetzungen für eine soziale Integration im Übrigen – die Beständigkeit des Aufenthalts dann allenfalls von subjektiven Umständen abhängen kann. Der willenszentrierten Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts hat der EuGH damit nicht das Wort geredet. Vielmehr ergibt sich die Bedeutung des Willens unvermeidlich daraus, dass bei einem Wechsel des Aufenthalts dessen Beständigkeit zu Beginn nur daran ermittelt werden kann, ob dieser als Provisorium oder als Dauerlösung geplant ist.
Rz. 77
Auch in der Rechtssache "A" hat der EuGH darauf hingewiesen, dass "die Absicht der Eltern, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, die sich in bestimmten äußeren Umständen, wie in dem Erwerb oder der Anmietung einer Wohnung im Zuzugsstaat, manifestiert, ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts sein" könne. Ein weiteres Indiz könne in der Einreichung eines Antrags auf Zuweisung einer Sozialwohnung liegen.
Rz. 78
Für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts in Frankreich war daher – neben der Möglichkeit zur sofortigen Reintegration aufgrund des bisherigen Lebensverlaufs – der einverständliche Wille der Eltern maßgeblich, dort wegen der Arbeitsstelle des Vaters erst einmal zu bleiben. Die Absicht, bei besserer Gelegenheit später nach Deutschland zurückzukehren, stand hier der Integration nicht entgegen. Anders wäre dies aber – zumindest im Erbrecht – möglicherweise dann zu bewerten, wenn die Arbeitsstelle in Frankreich von Anfang an befristet gewesen wäre.
Rz. 79
In der Rechtssache "IB" lebte der Ehemann die meiste Zeit des Jahres in England, wo er arbeitete, und an den Wochenenden bei seiner Familie in Frankreich. Der EuGH nahm hier an, dass er keinen doppelten gewöhnlichen Aufenthalt habe, sondern einen gewöhnlichen Aufenthalt ausschließlich am Wohnort der Familie.
Rz. 80
Auch das OLG München hat festgestellt, dass die Verbringung eines geschäftsfähigen Erblassers durch seinen Betreuer in ein Pflegeheim jenseits der Landesgrenze den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers i.S.d. EuErbVO unberührt lasse. Freilich könnte man hier die fehlende Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts auch darauf stützen, dass eine demente Person zur Integration in eine neue Umgebung nicht mehr in der Lage ist.