Rz. 77
Im Recht der Haftpflichtversicherungen gilt grds. das Trennungsprinzip. Das Haftpflichtverhältnis zwischen dem Anspruchsteller und dem Versicherungsnehmer wird getrennt vom Deckungsverhältnis zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer behandelt. Logisch vorrangig ist zunächst – ggf. im Haftpflichtprozess – zu klären, ob und warum der Versicherungsnehmer haftet. Streitigkeiten, die das Versicherungsverhältnis betreffen, wären Gegenstand eines anschließenden Deckungsprozesses. Ergänzt werden muss dieses Prinzip durch die Bindungswirkung, die der Ausgang des Haftpflichtprozesses für das Deckungsverhältnis nach sich zieht. Im Deckungsprozess ist von dem auszugehen, was im Haftpflichtprozess rechtskräftig festgestellt ist. Die Bindungswirkung besteht unabhängig davon, ob der Versicherer am Haftpflichtprozess beteiligt war. Der Versicherungsnehmer muss also dem Versicherer nicht den Streit verkünden; die Bindungswirkung hat ähnliche Wirkungen wie § 68 ZPO. Steht aufgrund des Haftpflichtprozesses fest, dass der Versicherungsnehmer gegen Berufspflichten verstoßen hat, kann dieser im Deckungsprozess nicht einwenden, das Urteil aus dem Haftpflichtprozess sei unrichtig. Falls sich das Urteil aus dem Haftpflichtprozess nicht differenziert zum Verschulden des Versicherungsnehmers äußert, kann im Deckungsverfahren allerdings schon darüber gestritten werden, ob der Verstoß wissentlich in dem oben erläuterten Sinne erfolgte. I.Ü. gilt auch umgekehrt: Sollte sich aus den Feststellungen des Haftpflichturteils ergeben, dass kein Verstoß oder jedenfalls kein schuldhafter Verstoß gegen Berufspflichten vorliegt, kann auch der Versicherer im Deckungsprozess nicht mehr einwenden, leistungsfrei zu sein, weil der Versicherungsnehmer wissentlich gegen seine Pflichten verstoßen habe. Wegen der Bindungswirkung des Haftpflichturteils ist es dem Haftpflichtversicherer verwehrt, sich im Deckungsprozess auf eine andere schadenverursachende Pflichtverletzung als im Haftpflichtprozess angelastet zu berufen. Selbst wenn die Feststellungen im Haftpflichtprozess auf einem Geständnis des Versicherungsnehmers beruhen, ist der Versicherer gebunden, wenn er die Unrichtigkeit des Geständnisses nicht nachweisen kann.
Rz. 78
Die Bindungswirkung der im vorausgegangenen Haftpflichtprozess zwischen dem Geschädigten und dem Versicherungsnehmer oder der sonst versicherten Person ergangenen Entscheidung besteht im nachfolgenden Deckungsprozess aber nur insoweit, als Voraussetzungsidentität besteht. Dies ist der Fall, wenn eine für den Deckungsprozess entscheidungserhebliche Frage sich auch im Haftpflichtprozess nach dem vom Haftpflichtgericht gewählten rechtlichen Begründungsansatz bei objektiv zutreffender rechtlicher Würdigung als entscheidungserheblich erweist. Die Bindungswirkung bezieht sich auf die dem Haftpflichturteil zugrunde liegenden Tatsachen ebenso wie auf die rechtlichen Bewertungen, soweit sie abschließend erfolgt sind. Diese Begrenzung der Bindungswirkung ist deshalb geboten, weil Versicherungsnehmer und Versicherer keinen Einfluss darauf haben, dass der Haftpflichtrichter "überschießende", nicht entscheidungserhebliche Feststellungen trifft oder nicht entscheidungserhebliche Rechtsausführungen macht.
Beispiele aus der Rechtsprechung
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Stützt sich das Haftpflichturteil auf eine bestimmte Pflichtverletzung, kann sich der Versicherer nicht darauf berufen, dass zwar nicht diese, aber eine andere Pflichtverletzung wissentlich vorgenommen wurde. |
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Stellt das Haftpflichturteil mehrere schadenverursachende Pflichtverletzungen fest, von denen lediglich eine nicht von einem Risikoausschluss erfasst wird, kann sich der Versicherer nicht mit Erfolg auf Risikoausschlüsse bzgl. der anderen Pflichtverletzungen stützen. |
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Wird im Haftpflichturteil lediglich fahrlässiges Verhalten des Versicherungsnehmers festgestellt, kann sich der Versicherer weiterhin darauf berufen, dass es sich um eine wissentliche Pflichtverletzung handelte. |
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Überschießende Feststellungen, die für das Haftpflichturteil ohne Relevanz sind, entfalten mangels Voraussetzungsidentität keine Bindungswirkung. |
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Auch Versäumnisurteile und Prozessvergleiche können Bindungswirkungen herbeiführen. Beim Versäumnisurteil ist auf die Klageschrift, beim Prozessvergleich auf das Parteivorbringen abzustellen. Keine Bindungswirkung besteht an Feststellungen, die in einem Adhäsionsverfahren getroffen wurden. |
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Wird der Versicherungsnehmer einer Haftpflichtversicherung (hier: Vermögensschadenhaftpflichtversicherung für Rechtsanwälte) im Haftpflichtprozess zum Schadensersatz wegen positiver Vertragsverletzung verurteilt, so ist das Gericht im Deckungsprozess zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Haftpflichtversicherer daran gebunden und kann seiner Entscheidung keinen anderen Haftungsgrund zugrunde legen. |
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Der für den Deckungsprozess bindende Haftungstatbestand umfasst lediglich die vom Tatrichter des Haftpfli... |