1. Allgemeines
Rz. 66
Zumindest seit dem Jahr 2004 wird über die Inhaltskontrolle von Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträgen vermehrt diskutiert. Anlass und Ausgang für die Überlegungen war die Rechtsprechung zur Inhaltskontrolle bei Eheverträgen. Ein anderes Thema ist die Frage, ob der Verzicht, z.B. bei einem von Sozialleistungen abhängigen Kind, zu Lasten eines Sozialleistungsträgers sittenwidrig ist – was grundsätzlich abzulehnen ist.
2. Inhaltskontrolle bei Eheverträgen
Rz. 67
Nach der Entscheidung des BVerfG im Jahr 2001 stellte der BGH im Jahr 2004 erste, später verfeinerte und ergänzte Grundsätze für die Beurteilung von Regelungen in Eheverträgen auf.
Prinzipiell dürfen Ehegatten die Fragen des Zugewinns, des nachehelichen Unterhalts und des Versorgungsausgleichs vertraglich regeln. Ist der Vertrag aber nicht "Ausdruck und Ergebnis gleichberechtigter Lebenspartnerschaft", sondern spiegelt er "eine einseitige Dominanz eines Ehepartners" wider, hat dem der Staat durch eine richterliche Inhaltskontrolle "Grenzen zu setzen". Um diese Vorgaben umzusetzen, hat der BGH die sog. Kernbereichslehre entwickelt: Ein Ehegatte wird unzumutbar einseitig belastet, je mehr durch den Vertrag in den Kernbereich des gesetzlichen Scheidungsfolgenrechts eingegriffen wird. Es wurde ein nach dem Schutzbedürfnis gestaffeltes Rangverhältnis aufgestellt: Am wenigsten vertraglich zu modifizieren ist danach der Kinderbetreuungsunterhalt im 1. Rang, es schließen sich an der Unterhalt wegen Alters oder Krankheit, der Versorgungsausgleich, Unterhalt wegen Erwerbslosigkeit, der Krankenvorsorge- und Altersvorsorgeunterhalt sowie der Aufstockungs- und Ausbildungsunterhalt bis hin zum abschließenden 7. Rang für den Zugewinnausgleich, welcher der vertraglichen Gestaltung am ehesten zugänglich ist.
Rz. 68
Die Prüfung selbst erfolgt in zwei Stufen, wobei die Wirksamkeitskontrolle an § 138 Abs. 1 BGB und die Ausübungskontrolle an § 242 BGB anknüpft:
(1) Bei der Wirksamkeitskontrolle kommt es auf die Umstände im Zeitpunkt des Vertragsschlusses an. Objektive Kriterien können die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Ehegatten, die geplante oder bereits bestehende Ausgestaltung der ehelichen Verhältnisse und die Auswirkungen der Eheschließung auf die Ehegatten und deren Kinder sein. Subjektive Umstände sind der Zweck, der mit der Vereinbarung insgesamt verfolgt wird, und die Beweggründe der Ehegatten für einzelne Regelungen.
(2) Für die Ausübungskontrolle wird geprüft, ob das Festhalten an dem Vertrag im Rahmen der Scheidung missbräuchlich ist. Das Vertrauen in die Regelung muss weniger schutzwürdig sein. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist es, wenn die ehelichen Lebensverhältnisse sich anders als geplant entwickelt haben.
3. Inhaltskontrolle bei Erb- und Pflichtteilsverzichten
a) Parallelen zur Inhaltskontrolle bei Eheverträgen
Rz. 69
Die Interessenlage der Beteiligten und das Machtgefüge unter ihnen kann bei Erb- und Pflichtteilsverzichten denen bei Eheverträgen stark ähneln. Wachter bietet dafür gute Beispiele.
Denkbar ist, dass bei einer Eheschließung ein nach den Kriterien des BGH unwirksamer Ehevertrag geschlossen wird, der mit einem Erb- und/oder Pflichtteilsverzicht verbunden oder von ihm begleitet wird. Erleidet der Erbverzicht dann dasselbe Schicksal wie der Ehevertrag?
Beispiel
Erhält ein gerade Volljähriger ein großes Geschenk ("Porsche") und wird in dem Zusammenhang vom Vater zu einem Pflichtteilsverzicht bewogen – oder besser: bestimmt –, obwohl die Zuwendung im Verhältnis zu einem potentiellen Pflichtteilsanspruch in Millionenhöhe sehr gering ist, kann ein Bedürfnis für eine gerichtliche Korrektur gesehen werden.
Rz. 70
Eine wesentliche Änderung der Umstände könnte gesehen werden, wenn der Pflichtteilsberechtigte mit Rücksicht auf die Familientradition und im Vertrauen auf eine Versorgung aller Angehöriger durch ein Familienunternehmen auf den Pflicht...