Rz. 216
Die Obliegenheiten vor Eintritt des Versicherungsfalls betreffen überwiegend Tatbestände, die aus der Rechtsprechung zum groben Organisationsverschulden bekannt sind und über Ziff. 27 ADSp zur unbegrenzten Haftung des Spediteurs oder über § 435 HGB bzw. Art. 29 CMR zur unbegrenzten Haftung des Frachtführers führen. Beispiele hierfür sind die Ziff. 7.1.1, 7.1.2, 7.1.3, 7.1.4, 7.1.6, 7.1.7 und insbesondere 7.1.8 DTV-VHV 2003/2011, wonach Schnittstellenkontrollen durchzuführen und zu dokumentieren sind. Von grobem Organisationsverschulden wird gesprochen, wenn naheliegende organisatorische Schutzmaßnahmen nicht getroffen werden. Das betrifft insbesondere unterbliebene Eingangs- und Ausgangskontrollen. Gleiches gilt bei der Lagerung hochwertiger Güter in ungeeignetem Lagerraum und bei nur unzulänglichen Kontrollen. Grob fahrlässiges Handeln liegt auch vor, wenn diebstahlgefährdetes Gut nach Verladung auf einem nicht verschlossenen und nur zeitweise bewachten Speditionsgelände abgestellt wird. So wurde für das Frachtrecht ein grob fahrlässiges Organisationsverschulden im Haftungs- und im Deckungsverhältnis bejaht, wenn bei einem Transport wertvoller Güter nach Italien nur ein Fahrer eingesetzt wurde, dem es aufgrund der vorgeschriebenen Fahrtroute unmöglich war, einen bewachten Parkplatz für die Ruhepause aufzusuchen. Von einer grob fahrlässigen Herbeiführung des Versicherungsfalls wurde bei einem Transport in die GUS-Staaten ausgegangen, weil nur ein Fahrer zum Einsatz kam und – entgegen der Policenvereinbarung – keine Anweisung gegeben wurde, nur im Konvoi zu fahren und im Lkw zu übernachten.
Rz. 217
Besondere Bedeutung für das Deckungsverhältnis erhält die Rechtsprechung des BGH zur Darlegungs- und Beweislast im Rahmen der Frachtführerhaftung wegen qualifizierten Verschuldens. Bei ungeklärter Schadensursache wird dem Auftraggeber der ihm obliegende Beweis für das qualifizierte Verschulden des Frachtführers schwer fallen, da er noch weniger als der Frachtführer in Erfahrung bringen kann, wie der Transport im Einzelnen bis zum Schadenfall verlaufen ist. In diesen Fällen trifft den Frachtführer eine prozessuale Darlegungsobliegenheit: Der Frachtführer muss die Schadensursache zeitlich, örtlich und personell näher eingrenzen, wenn äußere Anhaltspunkte auf ein qualifiziertes Verschulden hindeuten. In Verlustfällen ergeben sich Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Verschulden bereits aus der Tatsache des Verlustes selbst. Der Verlust lässt auf die Möglichkeit mangelnder Schnittstellenkontrollen oder auf die Möglichkeit eines Diebstahls durch Mitarbeiter des Frachtführers schließen. In Beschädigungsfällen können sich Anhaltspunkte für ein qualifiziertes Verschulden insbesondere aus dem Schadensbild ergeben, wenn es Rückschlüsse auf einen leichtfertigen Umgang mit dem Sendungsgut zulässt. Kommt der Frachtführer beim Vorliegen solcher Anhaltspunkte seiner prozessualen Darlegungsobliegenheit nicht nach, ist nach herrschender Rechtsprechung qualifiziertes Verschulden des Frachtführers zu vermuten.
Rz. 218
Diese Rechtsprechung, die von mangelndem Vortrag des Frachtführers im Prozess auf grobes Organisationsverschulden schließt, bleibt nicht ohne Folgen für den Deckungsprozess. Denn das so im Haftungsprozess gerichtlich festgestellte qualifizierte Verschulden erfüllt häufig die versicherungsvertragsrechtlichen Tatbestände der Obliegenheitsverletzung und der Herbeiführung des Versicherungsfalls. Auffallend ist dennoch, dass es oft nur dann zu Deckungsprozessen kommt, wenn sich der Versicherer ohnehin von einem bestimmten Versicherungsnehmer trennen will.