Rz. 44
Ungleichbehandlungen sind unter den Voraussetzungen der §§ 5, 8, 9 und 10 AGG zulässig. Weitere Rechtfertigungsgründe gibt es nicht. Belästigungen oder sexuelle Belästigungen sind Rechtfertigungen regelmäßig nicht zugänglich (BT-Drucks 16/1780, 35), sodass eine Rechtfertigung nur bei unmittelbarer und mittelbarer Benachteiligung in Betracht kommt. Bei der mittelbaren Benachteiligung gehört die sachliche Rechtfertigung bereits zum Tatbestand und wird daher i.R.d. Prüfung einer mittelbaren Benachteiligung geprüft, während bei der unmittelbaren Benachteiligung die Rechtfertigung auf einer weiteren Stufe zu prüfen ist. § 4 AGG stellt klar, dass jede Ungleichbehandlung für sich auf ihre Rechtfertigung hin zu überprüfen ist. Ist eine unterschiedliche Behandlung möglicherweise im Hinblick auf die in § 1 AGG genannten Gründe gerechtfertigt, liegt darin nicht zugleich die Rechtfertigung einer Benachteiligung wegen eines anderen in § 1 AGG genannten ebenfalls vorliegenden Merkmals. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass bestimmte Personengruppen typischerweise der Gefahr der Benachteiligung aus mehreren unzulässigen Anknüpfungspunkten ausgesetzt sind.
I. Aufgrund beruflicher Anforderungen
Rz. 45
Gem. § 8 Abs. 1 AGG kann eine Ungleichbehandlung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes zulässig sein, wenn das betreffende Merkmal wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingung ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt. Eine solche wesentliche und entscheidende Anforderung ist nur eine solche, die zwingend für die Ausübung der Tätigkeit ist (ArbG Berlin v. 13.7.2005; BAG v. 19.5.2016 – 8 AZR 470/14). Dies können sowohl tatsächliche wie auch rechtliche Anforderungen sein (MüKo/Thüsing, § 8 AGG Rn 9 f.).
Rz. 46
Voraussetzung ist weiterhin, dass der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist. Es geht also um die wertende Entscheidung, ob ein bestimmtes Arbeitgeberinteresse als ausreichend gewichtig anzusehen ist, um das mit dem Benachteiligungsverbot verfolgte gesetzgeberische Ziel zurückzudrängen (BAG v. 15.12.2016 – 8 AZR 454/15; Annuß, BB 2006, 1629, 1632). Die Anforderungen an eine Rechtfertigung aufgrund beruflicher Anforderungen stimmen inhaltlich mit denen des früheren § 611a Abs. 1 S. 2 BGB überein (Kamanabrou, RdA 2006, 321, 327; Thüsing, Rn 326). Zweckmäßigkeit allein begründet nicht die Zulässigkeit der Ungleichbehandlung, vielmehr müssen die wesentlichen und entscheidenden Anforderungen erforderlich sein und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck der Anforderung und Schutz vor Benachteiligungen standhalten (BT-Drucks 16/1780, 35).
Rz. 47
Beispiele
Die Nichtberücksichtigung der Elternzeit im Vergleich zu den aktiven Beschäftigungszeiten bei der Ermittlung der Berufsjahre trifft überwiegend Frauen, sodass darin eine mittelbare Benachteiligung wegen des Geschlechtes zu sehen sein könnte. Jedoch ist diese gem. § 8 Abs. 1 AGG gerechtfertigt, denn Zweck dieser Maßnahme ist, die Arbeitnehmer mit Berufserfahrungen, die sie befähigen, ihre Arbeit besser zu verrichten, zu honorieren. Es darf daher bei der Vergütungshöhe auf die beruflichen Erfahrungen abgestellt werden. Der EuGH hat das Modell der Gehaltssteigerung nach Berufsjahren als ein legitimes Ziel der Entgeltpolitik des Arbeitgebers akzeptiert. (ArbG Heilbronn v. 3.4.2007 – 5 Ca 12/07; ähnlich EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-17/05 – Cadman).
Eine unterschiedliche Behandlung wegen des Geschlechts ist zulässig, wenn das Geschlecht des Stelleninhabers eine wesentliche und entscheidende Anforderung i.S.d. § 8 Abs. 1 AGG darstellt. Daher stellt die Ablehnung eines männlichen Bewerbers auf eine Stelle im Mädcheninternat keine Diskriminierung dar (BAG v. 28.5.2009 – 8 AZR 536/08).
Eine in der Verwaltungspraxis angewandte Altershöchstgrenze von 42 Jahren für den Dienstposten eines Polizeibeamten als Einsatzbeamter eines Spezialkommandos stellt keine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters dar. Sie ist als besondere berufliche Anforderung an die körperliche Leistungsfähigkeit und zum Zwecke der Personalplanung inklusive der amtsangemessenen Weiterbeschäftigung des Beamten gerechtfertigt (OVG Berlin-Brandenburg v. 18.8.2011 – OVG 4 B 20/10, n.v.).
Rz. 48
Die Ungleichbehandlung eines Bewerbers auf eine Stelle im Polizeivollzugsdienst aufgrund seiner Transsexualität ist gem. § 8 AGG gerechtfertigt. Das rechtmäßige Ziel besteht in der Sicherstellung eines funktionierenden Polizeivollzugsdienstes durch den Ausschluss von solchen Bewerbern, die durch eine künstliche Hormonversorgung Stimmungsschwankungen unterliegen und dadurch Gefahr laufen, den besonderen Anforderungen dieses Dienstes nicht gerecht zu werden (VG Frankfurt am Main v. 3.12.2007 – 9 E 5697/06).
Rz. 49
Ein weiteres Kriterium für eine Rechtfertigung könnte die Marktausrichtung eines Unternehmens sein. Insoweit stellt sich die Frage, ob sich ein Arbeitgeber darauf berufen darf, dass eine bestimmte Marktausrichtung des Unternehmens die Einstellung bestimmter Merkmalsträg...