Rz. 74

In § 22 AGG wird die Beweislastverteilung für Rechtsstreitigkeiten nach dem AGG geregelt. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Indizien, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt gem. § 22 AGG diejenige Partei, die sich auf eine solche Benachteiligung beruft. § 22 AGG sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Auf der ersten Stufe steht der Nachweis einer Diskriminierungsvermutung durch den Arbeitnehmer. Der Arbeitnehmer muss Tatsachen darlegen und beweisen, die auf eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes schließen lassen. Gelingt dieser Nachweis, so trifft auf der zweiten Stufe den Arbeitgeber die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass die Benachteiligung gerechtfertigt ist (BT-Drucks 16/1780, 47).

 

Rz. 75

Die Norm gewährt dem Arbeitnehmer eine Beweiserleichterung hinsichtlich der Kausalität zwischen Arbeitgeberverhalten und Benachteiligung bzw. spezifischer Benachteiligungstendenz (§ 3 Abs. 2 AGG) in Form einer Absenkung des Beweismaßes (BAG v. Urt. v. 19.5.2016 – 8 AZR 477/14 m.w.N.; Grobys, NZA 2006, 898, 900). Damit soll dem Kläger ein strenger Nachweis der Tatsachen erspart werden, die in der Sphäre des Unternehmens liegen und somit dem Arbeitnehmer nicht genügend bekannt sind. Eine Beweislastumkehr liegt darin nicht, vielmehr werden die Lasten zwischen den Parteien abgestuft verteilt (ErfK/Schlachter, AGG, § 22 Rn 1). Hinsichtlich der Kausalität zwischen dem Benachteiligungsgrund und der Benachteiligung muss der Arbeitnehmer nicht den vollen Beweis tragen, dafür reicht die Vermutung. Diese soll ausreichen, da es sich bei der Kausalität um innere Tatsachen handelt, die dem Beweis nur schwer zugänglich sind. Die Vermutung der Kausalität eines Benachteiligungsgrundes muss wiederum durch Indizien bewiesen werden. Indiz-Tatsachen lassen eine Benachteiligung wegen eines Diskriminierungsmerkmales schon dann i.S.d. § 22 AGG "vermuten", wenn unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles bei freier Beweiswürdigung aus der Sicht einer objektiv verständigen Person der Schluss auf ein Handeln "wegen" eines Diskriminierungsmerkmales überwiegend wahrscheinlich ist. Dabei können sich auch aus Statistiken Indizien für eine geschlechtsbezogene Diskriminierung ergeben. Im Hinblick auf ein diskriminierendes Verhalten seitens des Arbeitgebers müssen diese aussagekräftig sein. Allein der Umstand, dass in derselben Branche in einer vergleichbaren Hierarchieebene der Frauenanteil höher ist als bei dem betroffenen Arbeitgeber, führt nicht zu einer Indizwirkung hinsichtlich einer geschlechtsbezogenen Diskriminierung von Frauen bei Beförderungsentscheidungen. Für die Annahme einer geschlechtsbezogenen Benachteiligung bedarf es über die bloßen Statistiken hinaus weiterer Anhaltspunkte (BAG v. 22.7.2010 – 8 AZR 1012/08). Der Arbeitnehmer muss die Indiz-Tatsachen, aus denen sich die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer Benachteiligung ergibt, nach den Vorschriften der ZPO beweisen, wenn sie vom Arbeitgeber bestritten worden sind. Eine Glaubhaftmachung nach § 294 ZPO ist nicht genügend (Windel, RdA 2007, 1, 4; a.A. Bauer/Thüsing/Schunder, NZA 2006, 774, der das Ausreichen einer Glaubhaftmachung europarechtlich für geboten hält). Das Gericht muss von der überwiegenden Wahrscheinlichkeit für die Kausalität zwischen Benachteiligungsgrund und der Benachteiligung überzeugt werden. Kann eine überwiegende Wahrscheinlichkeit streitiger Indizien nicht bewiesen werden, geht dieses "non liquet" auch nach § 22 AGG zulasten der klagenden Partei (LAG Düsseldorf v. 9.6.2015 – 16 Sa 1279/14; ArbG Berlin v. 12.11.2007 – 86 Ca 4035/07).

 

Rz. 76

 

Beispiele

Durch einen Hinweis in einer Stellenanzeige, dass Bewerber "idealerweise nicht älter als 45 Jahre" sein sollten, wird eine Indizwirkung für eine unzulässige Diskriminierung ausgelöst. Hat der Arbeitgeber aber dennoch ältere Bewerber eingestellt, kann er diese Indizwirkung widerlegen (ArbG Stuttgart v. 5.9.2007 – 29 Ca 2793/07).

Wenn ein Mann sich auf eine Stelle als Betreuungskraft bewirbt und eine Absage erhält, in der es heißt, dass die Wahl auf Mitbewerberinnen gefallen sei, und der potenzielle Arbeitgeber keine Unterlagen zu Ausschreibung und Auswahlkriterien vorlegt, ist zu seinen Lasten zu unterstellen, dass der Bewerber aus Gründen des Geschlechtes unzulässig benachteiligt worden ist (ArbG Stuttgart v. 26.4.2007 – 15 Ca 11133/06).

Andererseits ließ es das LAG München (v. 7.8.2008 – 20 Ca 7270/07) als Indiz für eine geschlechtsspezifische Diskriminierung nicht ausreichen, dass der Anteil von Frauen in Führungspositionen stark abgenommen hat und nun unter dem Bundesdurchschnitt liegt.

Sagt ein öffentlicher Arbeitgeber einem schwerbehinderten Bewerber ab, ohne das nach § 82 S. 2 SGB IX notwendige Vorstellungsgespräch geführt zu haben, liegt zunächst ein Indiz vor, das eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung vermuten lässt. Der öffentliche Arbeitgeber kann jedoch den Verstoß heilen, wenn er den Be...

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