Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 16
Der Arbeitgeber hat, was die Alltagspraxis mitunter ignoriert, im Vorfeld einer Stellenausschreibung vielfältige Prüfungspflichten und Beteiligungsrechte aus §§ 164, 166 SGB IX zu beachten. Diese Förderpflichten betreffen allerdings nur Arbeitgeber, die die Schwerbehindertenquote nicht erfüllen (§ 164 Abs. 1 S. 7 SGB IX). Denn die S. 7–9 des § 164 Abs. 1 SGB IX stehen miteinander in unmittelbarem Zusammenhang und sind so zu lesen, als stünden sie in einem für sich getrennten Absatz. Jede andere Interpretation würde zu unsinnigen Ergebnissen führen.
Rz. 17
Im Geltungsbereich von §§ 164, 166 SGB IX ist zunächst bei jeder freien Stelle zu prüfen, ob diese mit einem schwerbehinderten Menschen besetzt werden kann. Zu diesem Zweck hat der Arbeitgeber frühzeitig Verbindung mit der Agentur für Arbeit aufzunehmen. Hierbei hat er weiter die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen sowie den Betriebsrat/Personalrat anzuhören (§ 164 Abs. 1 S. 4 ff. SGB IX). Diese Beteiligungsrechte betreffen schon die Prüfung nach § 164 Abs. 1 S. 1 SGB IX, setzen also zeitlich bereits im Stadium der Vorbereitung einer Stellenausschreibung an. Während die Anhörung des Betriebsrats/Personalrats im Wesentlichen durch wechselseitigen Informationsaustausch erfolgt, erfordert die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 S. 1 SGB IX die unverzügliche und umfassende Unterrichtung und Anhörung, ggf. eine gemeinsame Erörterung unter Anhörung des schwerbehinderten Menschen sowie die Begründung der anschließenden Entscheidung gegenüber allen Beteiligten (§ 164 Abs. 1 S. 6–9 SGB IX).
Rz. 18
Für öffentliche Arbeitgeber gelten erweiterte Förderpflichten.
Im öffentlichen Dienst ist § 81 Abs. 2 S. 1 SGB IX a.F. gemeinschaftsrechtskonform auf alle Behinderten mit einem Grad von mindestens 30 % anzuwenden. Das gilt auch für die Beweislastregel des § 81 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 S. 3 SGB IX a.F., nicht aber für § 165 S. 3 SGB IX, wonach der öffentliche Arbeitgeber jeden schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen hat, es sei denn, er wäre offensichtlich ungeeignet.
Diese Vermutung greift auch dann, wenn dem schwerbehinderten Bewerber zwar eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch in Aussicht gestellt wird, ihm gleichzeitig aber mitgeteilt wird, seine Bewerbung habe nach der "Papierform" nur eine geringe Aussicht auf Erfolg.
Ein Entschädigungsanspruch wegen Diskriminierung bei der Einstellung kommt in Betracht, wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Einstellung weiß oder wissen muss, dass der Bewerber mit einem Grad von mindestens 30 % behindert ist.
Ein Verstoß gegen die Einladungspflicht kann auch dann nicht geheilt werden, wenn der öffentliche Arbeitgeber auf Beanstandung des Bewerbers dessen Bewerbung im noch laufenden Bewerbungsverfahren wieder aufnimmt und ihn zu einem Vorstellungsgespräch einlädt.
Rz. 19
Ob Verstöße gegen §§ 163 f. SGB IX schon eine Benachteiligung i.S.d. §§ 3, 7 AGG darstellen und damit automatisch den Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG auslösen, oder ob – so die Tendenz in der Rechtsprechung – ein solcher Verstoß als Indiz für eine Diskriminierung gem. § 22 AGG zu werten sei, was zu einer Umkehr der Beweislast führt, wird von Rechtsprechung und Literatur teilweise unterschiedlich beurteilt. Die Vermutung einer Benachteiligung i.S.v. § 22 AGG kann nach der Rechtsprechung grundsätzlich aus einem Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, abgeleitet werden.
Im Ergebnis muss allen Arbeitgebern dringend angeraten werden, die Förderpflichten des § 164 SGB IX – auch wenn sie im Einzelfall mit erheblichem Bürokratismus verbunden sein sollten – peinlich genau einzuhalten. Denn in der Alltagspraxis tauchen auch schwerbehinderte Scheinbewerber als professionelle Diskriminierungskläger, sog. "AGG-Hopper", auf. Solche Scheinbewerber/innen weisen in ihrer Bewerbung – teilweise versteckt oder verklausuliert – auf ihre Behinderung hin und spekulieren darauf, dass der Arbeitgeber seinen Förderpflichten aus § 164 Abs. 1 und 2 SGB IX nicht nachkommt. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass ein Bewerber, der seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bei der Behandlung seiner Bewerbung berücksichtigt wissen will, den angestrebten Arbeitgeber über seine Anerkennung als Schwerbehinderter regelmäßig im Bewerbungsschreiben selbst zu unterrichten hat. Die bloße kommentarlose Beifügung einer Kopie des Schwerbehindertenausweises zu den umfangreichen Bewerbungsunterlagen genügt insoweit nicht.
Rz. 20
Das BAG hat mit seiner jüngsten Entscheidung vom 23.1.2020 noch einmal deutlich gemacht, wie wichtig zuverlässige unternehmensinterne Abläufe hinsichtlich der Erstellung der Stellenausschreibung über die sorgfältige Sichtung und Bearbeitung der eingehenden Unterlagen hin zum diskriminierungsfreien Einladen zum Vorstellungsgespräch sind, und der AGG