Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 874
Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Tage, ist der Arbeitnehmer gem. § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG verpflichtet, spätestens am darauffolgenden Arbeitstag, d.h. am vierten Krankheitstag, eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen. Aus der Bescheinigung müssen sich das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer ergeben; auch muss erkennbar sein, ob es sich um eine Erst- oder Folgebescheinigung handelt.
Rz. 875
Die Pflicht, eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit durch ärztliche Bescheinigung nachzuweisen, kann gem. § 5 Abs. 1 S. 3 EFZG verschärft werden. Zulässig ist es daher, die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bereits ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder für Krankheitszeiten, die weniger als drei Tage andauern, zu verlangen. Dieses Verlangen kann individuell in jedem Krankheitsfall erhoben werden; bei entsprechendem Bedarf ist allerdings eine allgemeine arbeitsvertragliche Regelung, die die Pflichtenstellung des Arbeitnehmers unmissverständlich konkretisiert, vorzuziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine allgemeingültige oder sonst kollektiv wirkende Modifikation der Verpflichtung zur Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die betriebliche Ordnung i.S.v. § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG betrifft und deshalb nur wirksam ist, wenn die Zustimmung des Betriebsrats vorliegt.
Rz. 876
Nur unzureichend gesetzlich geregelt ist die Pflichtenstellung des Arbeitnehmers, wenn die Arbeitsunfähigkeit über den ärztlich bescheinigten Zeitraum andauert. Gem. § 5 Abs. 1 S. 4 EFZG muss der Arbeitnehmer nach Ablauf der bescheinigten Krankheitsdauer eine neue ärztliche Bescheinigung vorlegen; jedoch enthält die gesetzliche Regelung keine Vorgaben darüber, wann diese Bescheinigung vorzulegen ist und ob den Arbeitnehmer zusätzliche Anzeigepflichten treffen. Überwiegend wird deshalb angenommen, dass die Anzeigepflichten des § 5 Abs. 1 EFZG im Falle einer Folgeerkrankung entsprechend anzuwenden sind. Ergänzend sollten geeignete Regelungen klarstellend in den Arbeitsvertrag aufgenommen werden; sie begegnen den berechtigten Interessen des Arbeitgebers, auch bei längerer Arbeitsunfähigkeit auf die Fehlzeiten reagieren zu können.
Rz. 877
Mit Wirkung zum 1.1.2023 ist die Pflicht zum Nachweis der Arbeitsunfähigkeit durch ärztliche Bescheinigung in Papierform mit § 5 Abs. 1a EFZG teilweise ersetzt worden durch die Verpflichtung, die Arbeitsunfähigkeit lediglich ärztlich feststellen zu lassen und den Arbeitgeber hierüber zu informieren. Die Krankenkasse erstellt sodann eine elektronische Bestätigung der ärztlichen Feststellung, die der Arbeitgeber elektronisch abrufen kann. Diese teilweise Digitalisierung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gilt allerdings nur für gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer und bei Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt, der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt. Sie gilt zudem nicht für geringfügig Beschäftigte in Privathaushalten. Für eine Übergangszeit erhalten Arbeitnehmer zusätzlich eine schriftliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, damit sie im Fall technischer Probleme die Arbeitsunfähigkeit gegenüber dem Arbeitgeber nachweisen können.
Rz. 878
Die Nachweis- bzw. Feststellungspflicht besteht unabhängig von einem etwaigen Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltfortzahlung; ihre Verletzung kann auf diesen jedoch unmittelbare Auswirkungen haben. Der Arbeitnehmer hat die Tatsache der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit darzulegen und zu beweisen. Dieser Nachweis wird regelmäßig durch die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geführt, der, soweit sie ordnungsgemäß und in Übereinstimmung mit den sog. Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien erstellt wurde, ein hoher Beweiswert zukommt, der nur durch besondere Umstände des Einzelfalls erschüttert werden kann. Der Beweiswert kann bspw. erschüttert sein bei Eigenkündigung und passgenauer Arbeitsunfähigkeit für die Dauer der Kündigungsfrist, bei Erkrankung im Anschluss an einen Heimaturlaub, dessen Verlängerung abgelehnt wurde, bei abgesprochener Krankmeldung mehrerer Arbeitnehmer und bei Erteilung einer ärztlichen Bescheinigung ohne Untersuchung des Arbeitnehmers. Verletzt der Arbeitnehmer schuldhaft seine Nachweis- oder Feststellungspflicht, ist der Arbeitgeber gem. § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG berechtigt, die Entgeltfortzahlung vorläufig zu verweigern; dieses Zurückbehaltungsrecht endet allerdings, wenn der Arbeitnehmer eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachreicht oder den Nachweis der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit anderweitig, etwa durch Aussage des behandelnden Arztes führt.