Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 77
Arbeitgeber dürfen Schwerbehinderte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen (§ 164 Abs. 2 SGB IX i.V.m. AGG). Dennoch hat die bisherige Rechtsprechung proklamiert, dass die Frage nach der Schwerbehinderung stets zulässig war und wahrheitsgemäß beantwortet werden musste. Dieser Standpunkt will jedenfalls dann nicht einleuchten, wenn es um eine Behinderung geht, die nicht arbeitsplatzrelevanter Natur ist, zumal zwischen Behinderung und Schwerbehinderung seit Inkrafttreten des AGG nicht mehr differenziert wird. Das AGG spricht in § 1 lediglich von Behinderung, worunter man nach der Rechtsprechung des EuGH eine nicht nur vorübergehende Einschränkung versteht, die auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigung zurückzuführen ist und die ein nicht nur vorübergehendes Hindernis für die Teilnahme des Betreffenden am Berufsleben bildet.
Rz. 78
Jede Frage nach einer Behinderung ist grds. geeignet, einer verbotenen Benachteiligung Vorschub zu leisten. Daher wird die Frage nach einer Schwerbehinderung im neueren Schrifttum unter Hinweis auf § 164 Abs. 2 SGB IX; § 1 AGG weitgehend für unzulässig gehalten, jedenfalls soweit dieses Merkmal nicht der ausdrücklichen Förderung Behinderter dient. Denn die bevorzugte Einstellung Behinderter wird angesichts § 154 SGB IX für ebenso zulässig erachtet, wie der Hinweis auf eine Bevorzugung Behinderter in einer Stellenanzeige.
Rz. 79
Differenziert wird bei der wohl noch herrschenden Gegenmeinung danach, ob eine Behinderung sich auf die Leistungsfähigkeit für den zu besetzenden Arbeitsplatz auswirke. Auf die amtliche Anerkennung als Schwerbehinderter, auf eine Gleichstellung oder auf ein laufendes Anerkennungsverfahren könne es nicht ankommen, sondern stets nur auf eine zu erwartende arbeitsplatzrelevanten Minderleistung an sich. Allerdings kommt nicht jede befürchtete Leistungsminderung in Betracht, wie die Entscheidung des EuGH vom 11.7.2006 zeigt. Die Befürchtung einer generell erhöhten Krankheitsanfälligkeit infolge einer Neurodermitis kann die Zurückweisung der ansonsten bestqualifizierten Bewerberin für eine Stelle in der Parkraumbewirtschaftung nicht begründen. Dies verstieß im entschiedenen Fall gegen das seinerzeitige EU-rechtliche Benachteiligungsverbot, das inzwischen in §§ 1, 7 Abs. 1 AGG gesetzlich geregelt ist.
Rz. 80
Das BAG hat die Frage der Zulässigkeit für die Zeit bis zum Ablauf der Sechs-Monatsfrist des § 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX in mehreren Entscheidungen offengelassen. Arbeitgebern ist im Bewerbungsverfahren daher im Ergebnis zu raten, mit der Frage nach einer Behinderung/Schwerbehinderung zurückhaltend umzugehen, da nicht damit zu rechnen ist, dass die bisherige Rechtsprechung unverändert fortgesetzt wird. Nach der Einstellung wird hingegen zu differenzieren sein, da die Frage nach einer Schwerbehinderung oder einer Gleichstellung nun kein Indiz für eine Benachteiligung mehr ist. Überdies hat der Arbeitgeber bestimmte Rechte und Pflichten in diesem Zusammenhang zu beachten, z.B. die Pflicht zur Zahlung der Ausgleichsabgabe gem. §§ 154 ff. SGB IX oder die Einschaltung des Integrationsamtes vor einer Entlassung gem. § 170 SGB IX.
Rz. 81
Fragen nach Krankheiten, die häufig zu einer Behinderung führen, können bei Ablehnung der Einstellung eine Diskriminierung wegen vermuteter Behinderung bedingen. Denn nach § 7 Abs. 1 Hs. 2 AGG soll eine unzulässige Diskriminierung auch dann schon vorliegen, wenn der Arbeitgeber das Vorliegen eines Diskriminierungsmerkmals (z.B. einer Behinderung) auch nur annimmt.