Peter Kiesgen, Dr. iur. Jan Grawe
Rz. 947
Differenzierungsklauseln sollen die unterschiedliche Behandlung von Gewerkschaftsmitgliedern und nicht-organisierten Arbeitnehmern (sog. "Außenseiter") ermöglichen. Auch wenn Tarifverträge vorbehaltlich einer Allgemeinverbindlicherklärung i.S.d. § 5 TVG gem. § 3 Abs. 1 TVG Anwendung nur auf die Arbeitsverhältnisse der unmittelbar beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien finden, bleibt es dem Arbeitgeber unbenommen, die für ihn geltenden Tarifverträge auch auf die Arbeitsverhältnisse der nicht-organisierten Arbeitnehmer anzuwenden. Von gewerkschaftlich erkämpften Vorteilen profitieren dann auch Arbeitnehmer, die die tarifschließende Gewerkschaft nicht durch ihre Mitgliedschaft unterstützen. Aus diesem Grund werden in Tarifverträgen häufig sog. einfache Differenzierungsklauseln getroffen, die die Mitgliedschaft in der tarifschließenden Gewerkschaft zum Tatbestandsmerkmal eines bestimmten Anspruchs und somit zur anspruchsbegründenden Voraussetzung machen. Gegen solche tarifliche Regelungen bestehen in der Regel weder durchgreifende verfassungs- noch tarifrechtliche Bedenken.
Rz. 948
Weitere Formen von (sog. qualifizierten) Differenzierungsklauseln sind unter den Bezeichnungen "Tarifausschlussklausel" und "Spannenklausel" bzw. "Abstandsklausel" geläufig. Der Unterschied zu den einfachen Differenzierungsklauseln besteht bei diesen Erscheinungsformen darin, dass sie jeweils regulierend auf die Vertragspraxis des tarifgebundenen Arbeitgebers mit nicht-organisierten Arbeitnehmern Einfluss nehmen wollen. Die "Tarifausschlussklausel" will dem tarifgebundenen Arbeitgeber verbieten, eine tariflich allein den Gewerkschaftsmitgliedern vorbehaltene Leistung auch gegenüber Außenseitern zu erbringen. Die "Abstands- oder Spannenklausel" lässt derweil eine solche Vereinbarung des Arbeitgebers mit den Außenseitern zu, begründet für diesen Fall jedoch einen zusätzlichen Anspruch für die organisierten Arbeitnehmer in Höhe der bei Tarifabschluss vorausgesetzten Differenz zwischen den Ansprüchen der nicht organisierten und denjenigen der – durch die Differenzierungsklausel zusätzlich bedachten – organisierten Arbeitnehmer.
Rz. 949
Muster in Ihr Textverarbeitungsprogramm übernehmen
Muster 1a.61: Differenzierungsklauseln
Arbeitnehmer, die Mitglied der Gewerkschaft sind, erhalten zusätzlich zu dem jährlichen Weihnachtsgeld einen Betrag in Höhe von 1.500 EUR brutto, der im November zur Auszahlung kommt.
Muster in Ihr Textverarbeitungsprogramm übernehmen
Muster 1a.62: Spannenklauseln
Gewährt der Arbeitgeber Arbeitnehmern, die nicht Mitglied der Gewerkschaft sind, eine der Leistung nach Ziffer 1. entsprechende Leistung, so erhöht sich für die Arbeitnehmer, die Mitglied der Gewerkschaft sind, die Arbeitgeberleistung entsprechend.
Rz. 950
Als Maßstab für die Zulässigkeit von Differenzierungsklauseln gilt die sog. negative Koalitionsfreiheit, insbesondere der Außenseiter. Dieses grundgesetzlich durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Recht, einer Koalition fernzubleiben, wird im Kern nicht in Frage gestellt. Ebenso unbestritten ist es aber auch, dass die Mitgliedschaft in einer Koalition nicht folgenlos bleibt, und dass von den rechtlichen Folgen der koalitionsmäßigen Organisierung eines Arbeitgebers oder eines Arbeitnehmers für Außenseiter auch ein gewisser Anreiz ausgehen kann, selbst Mitglied der Koalition zu werden. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 11.7.2006 darauf hingewiesen, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Nicht-Organisierten lediglich vor einem Zwang oder Druck schützt, einer Koalition beizutreten; ein von der Regelung ausgehender bloßer Anreiz zum Beitritt erfülle diese Voraussetzung jedoch nicht. Eine allgemein akzeptierte abstrakte Grenze zwischen dem, was noch zulässiger Anreiz zum Gewerkschaftsbeitritt ist, und dem, was als unzulässiger Druck oder gar Zwang zu solchem Verhalten anzusehen ist, ist nicht zu erkennen.
Rz. 951
Einfache Differenzierungsklauseln können nach der Rechtsprechung des BAG bereits strukturell keinen unzulässigen unmittelbaren Druck auf Außenseiter ausüben und begegnen deshalb, wie bereits dargelegt, keinen grundsätzlichen rechtlichen Bedenken. Die Normsetzungskompetenz der Tarifvertragsparteien sei ohnehin auf ihre Mitglieder beschränkt, sodass die normative Wirkung einer Tarifregelung auf Außenseiter ausgeschlossen sei; die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers und der nicht oder anders organisierten Arbeitnehmer seien durch eine solche Tarifregelung nicht eingeschränkt, da es diesen unbenommen bleibe, ihre vertraglichen Beziehungen frei zu gestalten und bspw. arbeitsvertraglich eine der Tarifregelung entsprechende Vereinbarung zu treffen. Ein Anspruch auf die tariflichen Leistungen besteht in diesem Fall für nicht-organisierte Arbeitnehmer auch dann nicht, wenn der Anwendungsbereich des Tarifvertrages durch arbeitsvertragliche Verweisung im Sinne einer sog. Gleichstellungsabrede grundsätzlich eröffnet ist. Allerdings dürfen Differenzierungsklauseln auc...