Rz. 149
Was im Übrigen das Gesetz meint, wenn es die "im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten" und deren "angemessene" Berücksichtigung anspricht, war und ist seit Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes Anfang 2002 Gegenstand einer intensiven Diskussion in Rechtsprechung und Literatur.
Die Bandbreite der vertretenen Auffassungen war insbesondere anfangs erheblich: Während Teile der Literatur davon ausgingen, dass die Vorschrift praktisch keinen Anwendungsbereich habe, weil "arbeitsrechtliche Besonderheiten", die zu einer Durchbrechung der Grundsätze des § 307 BGB führen würden, nicht anzuerkennen seien, sahen andere § 310 Abs. 4 S. 2 BGB für den Bereich des Arbeitsrechts als zentrale Norm des modernisierten Schuldrechts, welche eine Anwendung gerade des § 309 BGB, in Teilen auch des § 308 BGB weitestgehend ausschließen sollte.
Der Rechtsprechung gebührt hier der Verdienst, in den Jahren nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes zumindest einige Grundsätze geklärt zu haben, die eine Anwendung des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB für den Praktiker – jenseits der nach wie vor nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Diskussion – zumindest erleichtern:
Rz. 150
Auch in der Rechtsprechung wurde zunächst schon früh darauf hingewiesen, dass der Wortlaut der "in hohem Maße unbestimmten Generalklausel" selbst keinen sicheren Rückschluss darauf zulasse, welche Besonderheiten hier im Detail gemeint sind und wie sich im Einzelfall deren angemessene Berücksichtigung auswirken soll. Zutreffend stellt das BAG allerdings heraus, dass die jetzige Fassung des § 310 Abs. 4 BGB auf einen Vorschlag der Bundesregierung zurückgeht und im Zusammenhang mit dem Wegfall der früheren Bereichsausnahme für das Arbeitsrecht zu sehen ist. Argument für den Wegfall der Bereichsausnahme war eine aus Sicht des Gesetzgebers nicht immer einheitliche Rechtsprechung der Senate des BAG, die schon zuvor eine Inhaltskontrolle arbeitsvertraglicher Regelungen unter Rückgriff auf §§ 242, 315 BGB vorgenommen und sich dabei mal mehr mal weniger stark an den Grundsätzen des AGBG orientiert hatte. Die aus dieser Rechtsprechung aus Sicht des Gesetzgebers resultierende Rechtsunsicherheit sollte mit dem Wegfall der Bereichsausnahme beseitigt und damit auch dafür gesorgt werden, dass das Schutzniveau der Vertragsinhaltskontrolle im Arbeitsrecht nicht hinter dem allgemeinen Zivilrecht zurückbleibt. Zugleich sollten aber insbesondere die besonderen Klauselverbote ohne Wertungsmöglichkeit des § 309 BGB im Arbeitsrecht nicht zwingend zur Anwendung kommen, sondern vielmehr gerade hier die Möglichkeit eröffnet werden, "besondere Bedürfnisse eines Arbeitsverhältnisses" zu berücksichtigen. In der Beschlussempfehlung und im Bericht des Rechtsausschusses wurde ergänzend hierzu die Erwartung des Ausschusses zum Ausdruck gebracht, mit der vorgeschlagenen Formulierung des § 310 Abs. 4 S. 2 BGB "Besonderheiten spezifischer Bereiche des Arbeitsrechts wie z.B. des kirchlichen Arbeitsrechts" angemessen Rechnung tragen zu können.
Hieraus wiederum wurde nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes zum Teil abgeleitet, dass eine Berücksichtigung arbeitsrechtlicher Besonderheiten von vornherein nur in besonderen Teilbereichen des Arbeitsrechts, wie etwa bei Arbeitsverträgen im kirchlichen Bereich, in Tendenzunternehmen oder bei befristeten Arbeitsverhältnissen in Betracht komme. Dieser Sichtweise ist das BAG jedoch nicht gefolgt: Nach Auffassung des BAG schreibt § 310 Abs. 4 S. 2 BGB vielmehr in jedem Arbeitsverhältnis die Berücksichtigung der arbeitsrechtlichen Besonderheiten bei Durchführung der Klauselkontrolle vor. Die Norm hat damit nicht nur in arbeitsrechtlichen Sonderfällen Bedeutung. Es ist stattdessen in jedem Fall zu überlegen, ob eine nach §§ 307 ff. BGB an sich unwirksame Klausel unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts nicht doch als wirksam anzusehen ist.
Rz. 151
Wie schon aus dem Wortlaut der Norm selbst unproblematisch folgt, gebietet § 310 Abs. 4 S. 2 BGB eine Berücksichtigung (arbeits-)rechtlicher Besonderheiten. Erforderlich ist insoweit allerdings nicht, dass sich der Anwendungsbereich dieser rechtlichen Besonderheiten auf den Bereich des Arbeitsrechts beschränkt. Das BAG hat z.B. entschieden, dass bei der Inhaltskontrolle einer Vertragsstrafenabrede z.B. die fehlende Vollstreckbarkeit der Arbeitsleistung gemäß § 888 Abs. 3 ZPO als "im Arbeitsrecht geltende Besonderheit" zu berücksichtigen sei, obwohl § 888 Abs. 3 ZPO natürlich auch außerhalb des Arbeitsrechts Anwendung finden kann, z.B. auf Dienstverträge, die gerade keine Arbeitsverträge sind. Die Berücksichtigung rechtlicher Normen als "im Arbeitsrecht geltende Besonderheit" setzt damit nicht voraus, dass die jeweilige Norm nur und ausschließlich arbeitsrechtliche Sachverhalte betrifft. Es genügt nach Auffassung der Rechtsprechung, wenn die Norm jedenfalls auch Arbeitsverträge erfasst, sich aber auf dem Gebiet des Arbeitsrechts...