Dr. Jörg Kraemer, Frank-Michael Goebel
Rz. 99
Eine weitere Möglichkeit der Titelkorrektur ist durch § 321a ZPO, § 44 FamFG (Anhörungs- oder Gehörsrüge) gegeben. Diese sollen dem instanzbeendenden Gericht die Möglichkeit der Selbstkorrektur unanfechtbarer Urteile in Fällen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs einräumen, um so die Anzahl der Verfassungsbeschwerden zu verringern. Dabei ist § 44 FamFG der Vorschrift des § 321a ZPO nachgebildet und gilt für familienrechtliche Verfahren. Darüber hinaus kommt die Gehörsrüge in gleicher Weise in Betracht, wenn es im Rahmen der Zwangsvollstreckung zu einer letztinstanzlichen Entscheidung kommt, bei der das rechtliche Gehör verletzt wurde.
Rz. 100
Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Anhörungsrüge sofern sie unter § 321a ZPO (wohl auch im Falle der Anwendbarkeit des § 44 FamFG) fällt, einer Verfassungsbeschwerde vorgeht. Sie ist jedoch nicht Zulässigkeitsvoraussetzung, wenn es um die Verletzung anderer Verfahrensrechte geht. Die Norm wird zum Teil aber als wirkungslos angesehen, weil angenommen wird, dass es dem über die Rüge zu entscheidenden Gericht an der inneren Unabhängigkeit fehlt, einen eigenen Fehler einzugestehen.
Rz. 101
Zuständig ist das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat. Der Gehörsrüge unterliegen alle unanfechtbaren instanzbeendenden Entscheidungen. Gleichgültig ist die Entscheidungsform (Urteil oder Beschluss), die Ausgestaltung des Verfahrens, etwa Urteil- oder Beschlussverfahren, Haupt- oder Nebenverfahren (z.B. PKH, selbstständiges Kostenverfahren, Zwangsvollstreckung) Hauptsacheverfahren oder Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, ferner die Instanz in der die Entscheidung ergangen ist (erst-, zweit- oder letztinstanzliche Entscheidung).
Rz. 102
Die Frist zur Einlegung beträgt zwei Wochen und ist eine Notfrist. Sie beginnt mit der Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 321a Abs. 2 ZPO, § 44 Abs. 2 FamFG) und damit frühestens mit der Zustellung der in vollständiger Form abgefassten Entscheidung. Bei nicht aus den Entscheidungsgründen ersichtlichen Gehörsverletzungen beginnt die Frist mit dem Zeitpunkt der positiven Kenntniserlangung, dieser ist glaubhaft zu machen. Die Rügeschrift ist bei dem Gericht einzureichen, welches die angegriffene Entscheidung erlassen hat (§ 321a Abs. 2 ZPO, § 44 Abs. 2 FamFG).
Falls die Rügeschrift bei einem Landgericht, Oberlandesgericht oder beim Bundesgerichtshof eingereicht wird, muss der Rechtsanwalt dort postulationsfähig sein (§ 78 Abs. 1 ZPO).
Rz. 103
Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör muss entscheidungserheblich sein. Dies ist dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Gericht ohne die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu einer anderen – für den Rügeführer günstigeren – Entscheidung gekommen wäre. Dies muss in der Rügeschrift dargestellt werden. Die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 103 GG ist weit. Typische Verletzungen sind das Unterlassen einer Beweisaufnahme trotz Beweisbedürftigkeit oder das Nichteinräumen einer Schriftsatzfrist trotz neuem Vortrag der Gegenseite und entsprechendem Antrag auf Einräumen einer Schriftsatzfrist. Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, ob auch ein Verstoß des Gerichts gegen § 139 ZPO die Möglichkeit der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO eröffnet.
Rz. 104
Es wird zwischen mehreren Fallgruppen unterschieden:
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Pannenfälle, bei ihnen erfolgt ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör unbeabsichtigt, beispielsweise wird ein fristgerecht eingereichter Schriftsatz nicht berücksichtigt. |
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Präklusionsfälle, bei ihnen wird das Äußerungsrecht einer Partei durch fehlerhafte Rechtsanwendung bewusst verkürzt. |
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Hinweisfälle, bei ihnen fehlt es an einem eigentlich durch zu erteilenden Hinweis, beispielsweise auf die in Betracht kommende analoge Anwendung einer Vorschrift. Zu dieser Fallgruppe gehört auch der fehlerhaft erteilte Hinweis. |
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Bei den Nichtberücksichtigungsfällen verletzt das Gericht Art. 103 Abs. 1 GG, in dem es wesentliche Ausführungen der Prozessbeteiligten nicht zur Kenntnis nimmt bzw. nicht in seine Erwägungen mit einbezieht. Dazu gehören Fälle bei denen das Gericht den Sachverhalt evident verkennt. |
Die Rügebegründung muss das Vorliegen eines Falles der entscheidungserheblichen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die angegriffene Entscheidung darlegen (§ 321a Abs. 2 Hs. 2, Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO).
Die Entscheidung ergeht durch Beschluss, der unanfechtbar ist (§ 321a Abs. 4 ZPO). Ist die Rüge begründet, so wird das Verfahren gemäß § 321a Abs. 5 ZPO fortgeführt.
Rz. 105
Der Prozessbevollmächtigte erhält keine gesonderten Gebühren (§ 19 Abs. 1 Nr. 5 RVG). Wenn er erst für das Rügeverfahren beauftragt wird, erhält er eine 0,5 Verfahrensgebühr gemäß Nr. 3330 VV RVG. Insoweit stellt sich allerdings die Frage nach der Notwendigkeit der Beauftragung eines neuen Rechtsanwaltes, da dies regelmäßig durch den früheren Bevollmächtigten beantragt werden ...