Dr. Stephan Pauly, Michael Pauly
1. Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung
Rz. 72
Vor Stellung des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bedarf es der Mitteilung an die Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 SGB IX zur arbeitgeberseitig beabsichtigten Stellung eines Antrags beim Inklusionsamt auf Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen und hilfsweisen ordentlichen Kündigung. Nach Eingang der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung muss der Arbeitgeber nach erneuter Befassung mit der Angelegenheit und unter Berücksichtigung der Ausführungen der Schwerbehindertenvertretung entscheiden, ob er den Antrag auf Zustimmung stellen möchte. Nach der Zustimmung des Integrationsamts ist die Schwerbehindertenvertretung über die Entscheidung des Integrationsamts zu unterrichten und über die Entscheidung des Arbeitgebers, die Kündigung auszusprechen.
2. Einholung der Zustimmung des Integrationsamts/Inklusionsamts
Rz. 73
Nach §§ 168, 174 Abs. 1 SGB IX bedarf die außerordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung durch das Integrationsamt. Die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden, § 174 Abs. 2 S. 1 SGB IX. Maßgebend ist der Eingang des Antrags bei dem Integrationsamt/Inklusionsamt. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt, § 174 Abs. 2 S. 2 SGB IX. Durch die Zustimmung steht jedoch nicht zugleich fest, dass die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB gewahrt ist. Die Fristen des § 626 Abs. 2 S. 1 BGB und des § 174 Abs. 2 SGB IX bestehen selbstständig nebeneinander und verdrängen einander nicht. Die Gerichte für Arbeitssachen haben im Fall der Zustimmung des Integrationsamts/Inklusionsamts zur außerordentlichen Kündigung eines schwerbehinderten Menschen weder die Einhaltung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB noch die des § 174 Abs. 2 SGB IX zu prüfen. Das Integrationsamt/Inklusionsamt trifft die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Tag des Eingangs des Antrags an. Wird innerhalb dieser Frist eine Entscheidung nicht getroffen, gilt die Zustimmung als erteilt (§ 174 Abs. 3 SGB IX). Das Integrationsamt/Inklusionsamt soll die Zustimmung erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht (§ 174 Abs. 4 SGB IX).
Rz. 74
Nach § 174 Abs. 5 SGB IX kann die Kündigung auch nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erfolgen, wenn sie unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wird. Die Unverzüglichkeit bestimmt sich nach der Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB ("ohne schuldhaftes Zögern"). Unverzüglich bedeutet dabei weder sofort noch ist eine starre Zeitvorgabe ersichtlich, vielmehr ist eine Abwägung der beiderseitigen Interessen entscheidend. Dabei ist nicht allein die objektive Lage maßgebend. Solange derjenige, dem unverzügliches Handeln abverlangt wird, nicht weiß, dass er die betreffende Rechtshandlung vornehmen muss, oder es mit vertretbaren Gründen annehmen kann, er müsse sie noch nicht vornehmen, liegt kein "schuldhaftes" Zögern vor. Eine Unverzüglichkeit lehnt das BAG nach mehr als einer Woche ab, außer es liegen besondere Umstände vor. Die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung erst am siebten Tag nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts/Inklusionsamts ist nicht mehr unverzüglich. Aus Gründen der anwaltlichen Vorsicht sollte die Erklärung spätestens am dritten Tag nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamts/Inklusionsamts erfolgen. Maßgebend ist der Zugang der Kündigung, nicht deren Absendung.
Rz. 75
Die Arbeitsgerichte überprüfen nur die Unverzüglichkeit i.S.d. § 174 Abs. 5 SGB IX, nicht aber die Rechtzeitigkeit der Antragstellung des Arbeitgebers nach § 174 Abs. 2 SGB IX beim Integrationsamt. Dies überprüft das Integrationsamt bzw. im Fall der Anfechtung der Entscheidung das Verwaltungsgericht.
Rz. 76
Liegt die Zustimmung des Integrationsamtes zu einer außerordentlichen Kündigung eines Schwerbehinderten vor Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB vor, so kann der Arbeitgeber diese Kündigungserklärungsfrist voll ausschöpfen und muss nicht unverzüglich kündigen. Die dem Schutz des Arbeitgebers dienende Regelung des § 174 Abs. 5 SGB IX ergänzt als spezielle Regelung § 626 Abs. 2 BGB nur nach Ablauf der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist und führt nicht zu deren Verkürzung.
Rz. 77
Die Kündigung ist i.S.v. § 174 Abs. 5 SGB IX "erklärt", wenn sie dem schwerbehinderten Menschen gem. § 130 BGB zugegangen ist.
Rz. 78
Nach § 174 Abs. 3 S. 2 SGB IX gilt die Zustimmung als erteilt, wenn das Integrationsamt innerhalb einer Frist von zwei Wochen keine Entscheidung trifft. Auch in diesem Fall gilt § 174 Abs. 5 SGB IX, sodass die Kündigung unverzüglich zu erklären ist.
Rz. 79
Praxishinweis
Um den Beginn der Ausschlussfrist bestimmen zu können, muss der Arbeitgeber sich nach dem Eingang des Antrages und nach Ablauf von zwei Wochen erkundigen, ob eine Entscheidung ergangen ist. Bei Antragstellung unbedingt Zwei-Woche...