Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 43
Die Instanzgerichte sehen überwiegend die Funktion des Substantiierungsgebotes nicht nur darin, dem Gegner eine sachgerechte Verteidigung zu ermöglichen, sondern sie setzen die Substantiierungslast als Instrument ein, den Streitstoff einzugrenzen. Trägt eine Prozesspartei eingehend und differenziert vor, soll der Gegner auf das – entscheidungserhebliche – Vorbringen seinerseits differenziert erwidern müssen. Ein Vorbringen, das dieser Anforderung nicht genügt, bleibt unberücksichtigt, und zwar nicht erst dann, wenn ein Vortrag durch die Einlassung des Gegners unklar wird, vgl. dazu Rdn 48 ff., sondern schon immer dann, wenn ihm nicht § 138 Abs. 4 ZPO ausnahmsweise ein Bestreiten mit Nichtwissen gestattet, vgl. Rdn 34 ff.
Dem liegt folgende Überlegung zugrunde:
Rz. 44
Ist eine Partei außerstande oder nicht willens, ihr Vorbringen näher zu präzisieren, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Behauptung unwahr ist. Es sollen aber keine Tatsachenbehauptungen zur Sachverhaltsermittlung zugelassen werden, die von vornherein sehr unwahrscheinlich sind. Zwar wird nicht in Frage gestellt, dass auch Ungewisses als feststehend behauptet werden darf. Die Instanzgerichte nehmen aber für sich in Anspruch, das Vorbringen der Parteien einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen. Damit sollen die geringen Anforderungen an die Wahrheitspflicht ausgeglichen werden. Durch diese Kontrolle soll auch dem Ausforschungsbeweis begegnet werden. Wer nicht in der Lage ist, auf detaillierten Vortrag entsprechend zu erwidern, soll mit seiner Entgegnung ausgeschlossen bleiben, zu Ausnahmen vgl. Rdn 78 ff. Eine Prozesspartei soll sich ihre Informationen nicht erst in der Beweisaufnahme beschaffen dürfen, um sie dann als neue Tatsachenbehauptungen unter Beweis zu stellen. Nach Kiethe ist von einem unzulässigen Ausforschungsbeweis nur auszugehen bei offensichtlicher Willkür oder Rechtsmissbrauch, also wenn Behauptungen aufs Geratewohl oder ins Blaue hinein aufgestellt werden.
(Das Problem des Ausforschungsbeweises wird aus dieser Sicht zu einer Frage, ob hinreichend differenziert vorgetragen ist, um dem Beweisantritt für die Parteibehauptung überhaupt nachzugehen.)
Rz. 45
Trägt etwa in einem Unterhaltsrechtsstreit die Klägerin ein bestimmtes Monatseinkommen des von ihr verklagten Ehemannes vor, kann dieser sich auf ein bloßes Bestreiten beschränken, wenn sie keine Anhaltspunkte dafür benennt, wie sie auf diesen Betrag kommt. Macht sie aber geltend, dieser Betrag entspreche seinem monatlichen Einkommen, als die Parteien noch zusammenlebten, oder trägt sie zu der beruflichen Stellung des Ehemannes vor und ermöglicht damit dem Gericht, aus seiner allgemeinen Erfahrung auf ein bestimmtes Einkommen zu schließen, kann sich der Beklagte nicht auf ein lapidares Bestreiten beschränken. Denn dann gilt der Vortrag der Klägerin gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden. Will der Beklagte das vermeiden, muss er konkrete Angaben zu seinem tatsächlichen (niedrigeren) Einkommen vortragen.
Kennt der Unterhaltsberechtigte das Einkommen des Unterhaltsverpflichteten nicht, hat er aber Anhaltspunkte, aus denen sich das ungefähre Einkommen erschließen lässt, kann er sich häufig den Umweg einer Auskunftsklage ersparen und ein geschätztes Einkommen behaupten. Er geht allerdings das Risiko ein, mit seiner Schätzung zu niedrig zu liegen, oder, wenn er zu hoch liegt, mit einem Teil der Prozesskosten belastet zu werden.
Rz. 46
Die Praxis der Instanzgerichte steht nicht im Einklang mit der unter Rdn 48 ff. näher dargelegten Rspr. des BGH, zumindest derjenigen, die sich grundlegender mit der Substantiierungslast befasst.
Auch in der Rechtsliteratur stößt die Rechtspraxis der Instanzgerichte überwiegend auf Ablehnung. Es gibt aber auch zustimmende Äußerungen, so Stürner, JZ 1985, 185:
Zitat
Wer sich auf bloße Erheblichkeitskontrolle beschränkt, wird die Schwierigkeit kaum bewältigen können, den Vortrag erheblicher Tatsachen vom Vortrag des Subsumtionsergebnisses abzugrenzen. Er wird eigentlich jede Beweisaufnahme zulassen müssen; denn Tatsachen, Rechtstatsachen und rechtliche Wertungen als Vertragsgegenstand sind kaum voneinander zu unterscheiden [...]
Indessen wird m.E. das Verständnis der Substantiierung als Plausibilitätskontrolle und damit als Missbrauchskontrolle der Rechtsprechungskasuistik besser gerecht. In den meisten Fällen, in denen die Rechtsprechung eine Sachverhaltsklärung abgelehnt hat, konnte die Partei nicht nachvollziehbar darlegen, wie sie zu ihrer Behauptung kommt. Bei Behauptungen aus eigener Wahrnehmung liegt ihre Plausibilität in ihrer detaillierten Darlegung, bei Behauptungen über fremde Geschäfts- und Persönlichkeitssphären werden Details oft unbekannt sein, die Plausibilität liegt in der Darlegung von Anhaltspunkten für die behauptete Sachverhaltsgestaltung. Der in der Plausibilität liegende Wahrscheinlichkeitsgrad ist sehr niedrig, er hat mit vorweggenommener Beweiswürdigung und mit einem prima-facie-Beweis nichts zu tun....