Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 40
Aus der Regelung des § 138 Abs. 1 und 2 ZPO, wonach Parteien nicht nur wahrheitsgemäß, sondern über die tatsächlichen Umstände vollständig vorzutragen haben sowie jede Partei sich über die vom Gegner behaupteten Tatsachen zu erklären hat, wird eine Substantiierungslast der Parteien abgeleitet.
Der Begriff der "Substantiierungslast" lässt sich abstrakt schlecht greifen, weil der Umfang der konkreten Behauptungslast von der jeweiligen Prozesssituation und der Einlassung des Gegners abhängt. Das führt zu Unsicherheiten bei der Anwendung des Begriffs der "Substantiierungslast". Das ist umso bedauerlicher, als in der Praxis der Gerichte ständig Parteivorbringen mangels Substantiierung prozessentscheidend außer Betracht bleibt. Ein Rechtsanwalt sprach kritisch von "Die Unsubstantiiertheit, Justitias Schwert?" Ein anderer gibt seine Erfahrungen dahingehend wieder, dass "in mindestens 30 % der Fälle die Landgerichte ihre Entscheidungen auf nicht hinreichend substantiiertes Vorbringen des Klägers oder des Beklagten gründen." Das deckt sich mit Beobachtungen aus der Praxis. Die (Kommentar-) Literatur widmet sich diesem wichtigen Problemkreis nur sehr zurückhaltend.
Rz. 41
Der BGH hat bereits häufiger Veranlassung gesehen, sich zu den – nach Dölling nicht zu engen – Anforderungen zu äußern, die an die Substantiierungslast der Parteien zu stellen sind.
Das ist umso wichtiger, da die Instanzgerichte im Einzelfall die Anforderungen an substantiierten Sachvortrag deutlich überspannen, was im Ergebnis eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör darstellt.
Beispielsweise hat der BGH die Anforderungen an die Substantiiertheit des Klagevortrags in dem folgenden Fall als überspannt angesehen; BGH NJW-RR 2013, 296:
Zitat
In diesem Fall ging es um eine Inanspruchnahme aufgrund einer fehlerhaften Kapitalanlagenberatung. Das Berufungsgericht hielt den Vortrag des Klägers für nicht hinreichend substantiiert, da es an einem Vorbringen zu der Anbahnungssituation, den Vorkenntnissen des Anlegers, den Kenntnissen des Anlagevermittlers über das Vorwissen des Anlegers sowie zu dem Umfang, der Dauer und dem konkreten Ablauf der Beratungsgespräche fehle. Diese Anforderungen an die Substantiiertheit hielt der BGH für überspannt. Der Kläger sei nicht gehalten, die genauen Formulierungen darzustellen, die der Anlageberater in seinem Gespräch gewählt hat. Es genüge, wenn er die behaupteten Angaben und Versäumnisse des Beraters in ihrem inhaltlichen Kerngehalt wiedergebe.
Ein weiteres Beispiel aus der Rechtsprechung des BGH (NJW 2019, 607), in dem das Berufungsgericht die Anforderungen an die Substantiierung überspannt hat:
Zitat
In diesem Fall hat es der BGH für einen Anspruch nach § 1 HaftPflG als ausreichend angesehen, dass der Kläger die Behauptung in den Prozess eingeführt hat, die Verletzung sei am Abend des 9.10.2014 an der Haltestelle H. beim Einstieg in eine von der Beklagten betriebenen Straßenbahn und dabei durch die sich schließende Tür eingetreten. Das OLG Braunschweig hat demgegenüber die Zurückweisung der Berufung im Wesentlichen damit begründet, dass es an hinreichend substanziierten Vortrag zum Unfallhergang fehle. So sei die Klagepartei beispielsweise gehalten gewesen, weitere Einzelheiten zu Uhrzeit, Straßenbahnlinie oder Straßenbahnzug vorzutragen. Auch dass sie als Unfallzeitpunkt zunächst 19.50 Uhr angegeben und dies später auf "genau" 19.15 Uhr bzw. "ca." 19.15 Uhr korrigiert habe, stehe der Annahme einer hinreichenden Substantiierung entgegen. Der BGH hat dem entgegengehalten, dass es mit Blick auf die Substantiierung lediglich darauf ankomme, dass die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in ihrer Person entstanden erscheinen zu lassen.
Rz. 42
Die Rspr. des BGH zur Substantiierungslast ist andererseits aber auch nicht einheitlich. Stürner hat in diesem Zusammenhang festgehalten, dass sich der BGH in manchen Fragen des Prozessrechts wie eines Steinbruchs bedient, aus dem immer nur die gerade passenden Brocken gebrochen werden. Da es beim BGH für das Prozessrecht keine Spezialzuständigkeit gibt (geben kann), wird Verfahrensfragen offenbar weniger Interesse entgegengebracht und kaum darauf geachtet, die Rspr. der Senate einander anzugleichen.
Einigkeit bestand beispielswiese zunächst noch darin, dass ein Vorbringen so hinreichend konkret sein müsse, dass es dem Gegner eine sachgerechte Verteidigung ermögliche; der Gegner müsse zur Überprüfung und sachlichen Stellungnahme in der Lage sein. Angaben zu Zeit, Ort und anderen näheren Umständen müssen nicht gemacht werden, sofern die Gegenpartei die eigenen Darstellungen nicht substantiiert angreift. Ein Vorbringen oder Bestreiten, das diesen Anforderungen nicht genüge, wurde als nicht existent behandelt. Das Vorbringen des Gegners galt als zugestanden im Sinne des § 138 Abs. 3 ZPO. Die neueren Formulierungen in der Rspr. des BGH lesen sich hingegen so, d...