Dr. iur. Christian Saueressig
Rz. 53
Genügt eine Partei ihrer Substantiierungslast nicht, gilt das Vorbringen der Gegenseite als zugestanden. Sie wird behandelt, als ob sie das Vorbringen gar nicht bestritten hätte, § 138 Abs. 3 ZPO. Aber anders als bei einem Geständnis im Sinne des § 288 ZPO, von dem sich eine Partei gemäß § 290 ZPO nur schwer wieder lösen kann, vgl. § 1 Rdn 16 ff., kann sie bei dem nur fingierten Zugestehen des § 138 Abs. 3 ZPO bis zum Ende der mündlichen Verhandlung die Substantiierung nachholen; vorausgesetzt allerdings, dass nicht die Präklusionsvorschriften eingreifen, vgl. § 4 Rdn 9 ff. Ein Bestreiten in der Berufungsinstanz wird in der Regel nicht mehr möglich sein, da sich die Bindungswirkung des erstinstanzlichen Urteils auch auf zugestandene Tatsachen erstreckt.
Rz. 54
Will das Gericht ein Vorbringen mangels Substantiierung unbeachtet lassen, ist es gehalten, rechtzeitig darauf hinzuweisen. Ein Verstoß gegen die Hinweispflicht (§ 139 ZPO) kann eine Verletzung rechtlichen Gehörs sein, Art. 103 Abs. 1 GG. Das gilt insbesondere dann, wenn für die Prozessbeteiligten nicht vorhersehbar ist, auf welche Erwägungen das Gericht seine Entscheidung stützen wird, und eine Partei aus diesem Grunde entscheidungserheblichen Vortrag unterlässt. Nähere Einzelheiten zur richterlichen Hinweispflicht finden sich unter § 1 Rdn 33 ff.
Rz. 55
Häufig erteilt das Gericht seinen Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung. Das liegt daran, dass ein intensives Durchdenken des Streitstoffes meistens erst unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung erfolgt, und der Richter erst jetzt die mangelnde Substantiierung des Parteivorbringens bemerkt. Mit einem nunmehr erteilten Hinweis ist der Partei jedoch dann wenig gedient, wenn von ihr verlangt wird, ihr Vorbringen unmittelbar zu ergänzen. Insbesondere dann, wenn ein Anwalt ohne seinen Mandanten den Verhandlungstermin wahrnimmt und sich deshalb von diesem nicht kurzerhand Informationen verschaffen kann, ist er dazu gar nicht in der Lage. Der Hinweis des Gerichts genügt also nicht der Verpflichtung, rechtliches Gehör zu gewähren, wenn nicht zugleich durch eine Vertagung oder wenigstens durch einen Schriftsatznachlass, § 283 ZPO, die Möglichkeit gegeben wird, das Vorbringen zu ergänzen.
Rz. 56
Ebenso wie bei einem verspäteten Hinweis auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes (§ 139 Abs. 2 ZPO) hat eine Prozesspartei darauf einen Anspruch. Wird ein Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung gegeben und kann eine sofortige Äußerung nach den konkreten Umständen und den Anforderungen des § 282 Abs. 1 ZPO nicht erwartet werden, darf die mündliche Verhandlung nicht ohne Weiteres geschlossen werden. Auf Antrag der hingewiesenen Partei kann dieser auch eine Schriftsatzfrist (mit gleichzeitigem Schluss der Verhandlung und Bestimmung eines Verkündungstermins wie bei § 283 ZPO) gewährt werden (§ 139 Abs. 5 i.V.m. § 296a S. 2). Dieses Vorgehen empfiehlt sich jedoch regelmäßig nicht, da der Gegner zu neuem Vorbringen im nachgelassenen Schriftsatz erneut rechtliches Gehör erhält, also die mündliche Verhandlung nach § 156 ZPO ohnehin wieder eröffnet werden muss.
Rz. 57
BGH NJW-RR 1997, 441:
Zitat
Mit dem von ihm eingeschlagenen Verfahren hat das OLG seiner Hinweispflicht nicht genügt. Denn ein Hinweis macht – selbstverständlich – nur Sinn, wenn der Partei zugleich Gelegenheit gegeben wird, auf den Hinweis zu reagieren und den ihr mitgeteilten Bedenken durch eine Ergänzung ihres Sachvortrages und gegebenenfalls durch Beibringung weiterer Unterlagen Rechnung zu tragen […]. Dies hat das BerGer dem Kl. verwehrt, indem es unmittelbar nach Erteilung des Hinweises die mündliche Verhandlung geschlossen, einen Verkündungstermin anberaumt und die vom Kl. beantragte Wiedereröffnung der [mündlichen] Verhandlung abgelehnt hat. Bei einer solchen Verfahrensweise ist ein solcher Hinweis sinnlos und verfehlt den mit der gerichtlichen Hinweispflicht (§ 139 ZPO) und dem Verbot von Überraschungsentscheidungen (§ 139 Abs. 3 ZPO) verfolgten Zweck […].
OLG München JZ 1997, 188:
Zitat
Bemängelt das Gericht in der mündlichen Verhandlung die Substantiierung von Parteivortrag und ergänzt der Parteivertreter diesen noch im Termin, muss ein weiterer Hinweis erteilt werden, falls auch der präzisierte Vortrag nicht als hinreichend angesehen werden soll.
OLG Düsseldorf WM 1996, 1573:
Zitat
Im Ergebnis einer Verhinderung von Vortrag kommt es jedoch gleich, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis entweder besondere nicht vorhersehbare Anforderungen an den Sachvortrag der Parteien stellt oder mit seiner Entscheidung auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte […]
(Das Landgericht hatte in einer Forderungsabtretung einen Verstoß gegen § 11 RBerG gesehen, ohne dass eine der Parteien davon überhaupt gesprochen hatte.)
Die Fehlerhaftigkeit solcher Überraschungsents...