Rz. 77
Die Gründe für das Auftreten deutscher Mehrstaater sind vielfältig: Mehrstaatigkeit tritt nicht nur dann auf, wenn ein Kind deutscher Eltern in einem Staat geboren wurde, der dem ius soli-Grundsatz folgt (z.B. USA). Auch der ius sanguinis-Erwerb bringt Mehrstaatigkeit mit sich, wenn die Eltern verschiedenen Staaten angehören bzw. einer von ihnen schon mehreren Staaten angehört. Volksdeutsche Aussiedler erwerben die deutsche Staatsangehörigkeit, ohne die alte Staatsangehörigkeit zuvor aufzugeben (siehe Rdn 74) mit Aufnahme in Deutschland. Schließlich führt der ius soli-Erwerb gem. § 4 Abs. 3 StAG zur Mehrstaatigkeit bei in Deutschland geborenen Jugendlichen.
Rz. 78
Für die Kollision von Staatsangehörigkeiten enthält Art. 5 Abs. 1 EGBGB eine kollisionsrechtliche Hilfsnorm. Diese unterscheidet zwischen Mehrstaatern mit auch deutscher Staatsangehörigkeit und sonstigen Mehrstaatern.
Rz. 79
Hat der Betroffene neben seiner oder seinen ausländischen Staatsangehörigkeiten auch die deutsche, so ist aus deutscher Sicht stets und allein die deutsche Staatsangehörigkeit zu beachten. Dies gilt auch dann, wenn der Betreffende keinerlei tatsächliche Beziehungen mehr nach Deutschland hat. Die Regelung wird daher in der Literatur kritisiert. Freilich werden solche Fälle in der Praxis zumeist nicht vor dem deutschen Gericht landen, sondern dort entschieden werden, wo der Betreffende seine tatsächlichen Interessen hat, so dass im Ergebnis doch die effektive Staatsangehörigkeit entscheidet.
Rz. 80
Umstritten ist, ob Art. 5 Abs. 1 S. 2 EGBGB auch bei abkommensrechtlichen Kollisionsnormen zum Zuge kommt. Die deutsche Rspr. greift auf Art. 5 EGBGB zurück, wenn das Abkommen die Anknüpfung bei Mehrstaatern nicht ausdrücklich regelt. Den (multilateralen) Abkommen dürfte sich in den meisten Fällen durch Auslegung die Maßgeblichkeit der effektiven Staatsangehörigkeit entnehmen lassen, weil der primäre Zweck des Abkommens, eine einheitliche Rechtsanwendung herbeizuführen, ansonsten verfehlt würde. Im Übrigen spielt die Staatsangehörigkeit in neueren multilateralen Abkommen aber kaum noch eine Rolle.
Rz. 81
Hinweis: Gemäß § 25 Abs. 1 StAG verliert ein Deutscher seine deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er auf eigenen Antrag hin eine ausländische Staatsangehörigkeit erwirbt, ohne dass er eine entsprechende Ausnahmegenehmigung erhalten hat (ausgenommen ist nun der Fall, dass der Deutsche die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU oder der Schweiz erwirbt). Die deutsche Staatsangehörigkeit ist dann auch kollisionsrechtlich nicht mehr zu beachten – selbst wenn der Betreffende neben seinem neuen ausländischen Reisepass noch einen deutschen vorweisen kann.
Rz. 82
Da auch die meisten anderen Staaten, die das Personalstatut an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, auf dem Vorrang ihrer eigenen Staatsangehörigkeit beharren, ist diese Regel, verbunden mit einer in neuerer Zeit zunehmenden Hinnahme von Mehrstaatigkeit, einer der Hauptgründe für einen internationalen Entscheidungsdissens.
Rz. 83
Mehrstaater ohne deutsche Staatsangehörigkeit unterliegen gem. Art. 5 Abs. 1 S. 1 EGBGB dem Recht desjenigen Heimatstaates, mit dem sie am engsten verbunden sind (sog. effektive Staatsangehörigkeit). Regelmäßig – aber nicht zwingend – ist dies der Staat, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Aber auch die Sprache, die kulturelle Prägung, die Betätigung von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten und der bisherige sowie der geplante Lebensverlauf sind zu berücksichtigen.
Rz. 84
In der Praxis kann die Feststellung der maßgeblichen Staatsangehörigkeit schwierig werden in den Fällen der im Inland geborenen nicht-deutschen Mehrstaater ohne besondere Beziehung zu irgendeinem der Heimatstaaten. Die Entscheidung für den einen oder anderen Staat ist dann nicht eindeutig und das Ergebnis erscheint dann nicht unbedingt überzeugend. Hier sollte man einschlägige Bekundungen des Betroffenen akzeptieren – denen dann mittelbar die Funktion einer Rechtswahl zukäme. Lässt sich kein eindeutiger Schwerpunkt ausmachen, ist es besser, statt einer fragwürdigen Zuordnung zu einem dieser Staaten über Art. 5 Abs. 2 EGBGB ersatzweise das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Betreffende seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.