Prof. Dr. Rainer Deininger
aa) Sachverhalt
Rz. 41
Der deutsche Gesetzgeber hat als Reaktion auf das Urteil des EuGH v. 8.6.2016 in der Rechtssache C-479/14 (Hünnebeck) im Zuge des Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes (StUmgBG) in § 16 Abs. 2 ErbStG (beschränkte Erbschaftsteuerpflicht) eine Neuregelung aufgenommen, wonach für Erwerbe, für welche die Steuer nach dem 24.6.2017 entsteht (vgl. § 37 Abs. 14 ErbStG), der persönliche Freibetrag nach § 16 Abs. 1 ErbStG zu verringern ist.
Im zur Entscheidung vorliegenden Fall hatten weder der Erblasser noch die Alleinerbin einen Wohnsitz in Deutschland (sondern in Österreich). Der Erbfall fand im Jahr 2018 statt. Die Alleinerbin hatte zwei Pflichtteilsansprüche zu erfüllen, deren Abzug als Nachlassverbindlichkeiten das Finanzamt verwehrte.
bb) Vorlagefragen
Rz. 42
Als Erstes weist das vorlegende FG Düsseldorf darauf hin, dass nach der vom deutschen Gesetzgeber wie vorstehend beschrieben vorgenommenen Änderung des § 16 Abs. 2 ErbStG Erwerbe, für welche die Steuer nach dem 24.6.2017 entsteht (vgl. § 37 Abs. 14 ErbStG), der persönliche Freibetrag nach § 16 Abs. 1 ErbStG zu verringern ist. Nach dieser neuen Bestimmung sei der Freibetrag nach § 16 Abs. 1 ErbStG um einen nach Maßgabe des § 16 Abs. 2 ErbStG zu berechnenden Betrag zu mindern. Das vorlegende Gericht hat allerdings Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Neuregelung mit Art. 63 Abs. 1 und Art. 65 AEUV in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof.
Als Zweites fragt sich das vorlegende Gericht auch, ob § 10 Abs. 6 S. 2 ErbStG mit diesen Bestimmungen vereinbar sei.
cc) Entscheidung des EuGH
Rz. 43
Der EuGH entschied im Hinblick auf die erste Vorlagefrage, dass in der unterschiedlichen Freibetragsregelung zwar eine Beschränkung des Kapitalverkehrs zu erkennen sei, diese jedoch durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, gerechtfertigt sei. Die deutsche Regelung stelle den für eine Rechtfertigung notwendigen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Freibetrag, den der Erbe geltend machen kann, und dem Umfang der Steuerhoheit in Bezug auf die sich für ihn aus dem Erwerb ergebende Bereicherung her. Diese Regelung vermeide daher, dass die Steuerkraft eines beschränkt steuerpflichtigen Erben dadurch, dass es ihm gestattet wird, den Freibetrag in voller Höhe in Anspruch zu nehmen, obwohl sich dieser Freibetrag nicht auf eine steuerliche Belastung bezöge, die auf die gesamte aus der Erbübertragung resultierende Bereicherung erhoben wird, systematisch zu niedrig angesetzt wird.
Rz. 44
Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass durch die Verweigerung der Anerkennung der Pflichtteilsansprüche als Nachlassverbindlichkeiten eine Beschränkung des Kapitalverkehrs vorliege. Im Gegensatz zur Freibetragsregelung ist diese Beschränkung jedoch weder mit der Notwendigkeit, die Kohärenz des deutschen Steuersystems zu wahren, noch mit dem Territorialitätsprinzip und der Notwendigkeit der Gewährleistung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. Der EuGH führt dazu aus, dass sich die Ungleichbehandlung in Bezug auf die Abzugsfähigkeit der Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen allein aus der Anwendung der betreffenden deutschen Regelung ergibt. Außerdem habe die deutsche Regierung nicht dargelegt, weshalb die Berücksichtigung der Verpflichtungen aus Pflichtteilen, wenn diese mit Immobilien in Zusammenhang stehen, über die Deutschland ihre Steuerhoheit im Rahmen einer Teilbesteuerung ausübt, diesen Mitgliedstaat dazu bringen würde, auf einen Teil dieser Steuerhoheit zugunsten anderer Mitgliedstaaten zu verzichten, oder die Besteuerungsbefugnis dieses Mitgliedstaats beeinträchtigen würde.
Rz. 45
Der EuGH sieht in der Versagung des Abzugs von Pflichtteilen im Bereich der Nachlassverbindlichkeiten bei beschränkter Erbschaftsteuerpflicht eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit. Die grundsätzlich unterschiedliche Ausgestaltung der erbschaftsteuerlichen Freibeträge bei unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht ist dem EuGH zufolge jedoch europarechtskonform.
Wird in Deutschland Vermögen i.S.v. § 121 BewG vererbt, sind Erblasser und Erbe aber nicht in Deutschland ansässig, greift in Deutschland die beschränkte Erbschaftsteuerpflicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG. Mit Beschluss vom 20.7.2020 meldete das FG Düsseldorf Zweifel an der Unionrechtsvereinbarkeit der Freibetragsregelung für beschränkt Steuerpflichte und an der (Nicht-)Abzugsfähigkeit von Verbindlichkeiten aus Pflichtteilen als Nachlassverbindlichkeiten an.
In der ersten Vorlagefrage erkundigte sich das FG Düsseldorf, ob § 16 Abs. 2 ErbStG, nachdem beschränkt Steuerpflichtigen ein Freibetrag lediglich im Verhältnis des in Deutschland steuerpflichtigen Erwerbs zum Gesamterwerb zusteht, mit Europarecht vereinbar ist. Der EuGH sieht in der Regelung zwar eine Beschränkung des Kapitalverkehrs, diese sei jedoch durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses, nämlich der Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, gerechtf...