Prof. Dr. Rainer Deininger
1. Allgemeines
Rz. 67
Bis Ende 2006 war die Steuer auf die stillen Reserven nach § 6 AStG a.F. unmittelbar bei Wegzug fällig. Nachdem der EuGH in dem nachstehend besprochenen Urteil in Sachen de Lasteyrie die dem § 6 AStG a.F. in etwa entsprechende französische Regelung zur Wegzugsbesteuerung für europarechtswidrig erklärt hat, wurde im Rahmen des SEStEG die Vorschrift des § 6 AStG neu gefasst. Die damalige Gesetzesänderung ist zum 1.1.2007 in Kraft getreten.
Rz. 68
Die Wegzugsbesteuerung in Deutschland befindet sich nunmehr in einer neuen Umbruchphase hin zu einer weiteren Erschwerung für Wegzugswillige. Ähnlich wie nach dem Urteil des EuGH in Sachen de Lasteyrie war der deutsche Gesetzgeber nach Erlass des Urteils des EuGH in Sachen Wächtler zu gesetzgeberischem Tun gezwungen. Bereits im Urteil des EuGH i.S. Kommission/Portugal ließ der EuGH erkennen, dass er die bis dahin praktizierte Unterscheidung zwischen gegenständlicher und persönlicher Entstrickung hinsichtlich der Rechtsfolgen aufgeben will.
Rz. 69
§ 6 AStG wurde nunmehr völlig neu gestaltet. Am 21.5.2021 hat der Bundestag das Gesetz zur Umsetzung der Antisteuervermeidungsrichtlinie (ATAD-Umsetzungsgesetz) beschlossen, am 25.6.2021 im Bundesrat verabschiedet und am 30.6.2021 verkündet. Nach Darstellung des BMF verpflichtet die zugrundeliegende Richtlinie (EU) 2016/1164 des Rates vom 12.7.2016 die EU-Mitgliedstaaten zur Anpassung insbesondere ihrer steuerlichen Regelungen zur Entstrickungs- und Wegzugsbesteuerung (Art. 5 ATAD), zur Hinzurechnungsbesteuerung (Art. 7 und 8 ATAD) sowie zur Neutralisierung von Besteuerungsinkongruenzen im Zusammenhang mit Hybriden Gestaltungen (Art. 9 und 9b ATAD), soweit diese nicht bereits dem von der ATAD vorgegebenen Mindeststandard entsprechen. Ob mit der neuen Fassung des § 6 AStG allerdings die Bedenken im Schrifttum, der Gesetzgeber hätte § 6 AStG "konzeptionell nicht zu Ende gedacht" und "unzureichend formuliert", ausgeräumt sind, darf bezweifelt werden.
Hinweis
Zeitlich anzuwenden ist die neue Regelung auf Wegzüge und gleichgestellte Vorgänge, die seit dem 1.1.2022 erfolgen.
2. § 6 AStG n.F. durch das ATAD-Umsetzungsgesetz
a) ATAD-Umsetzungsgesetz
Rz. 70
Im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich der Norm hat sich im Vergleich zur alten Fassung die Dauer der unbeschränkten Einkommensteuerpflicht geändert: Erfasst werden nach § 6 Abs. 1 S. 1 AStG n.F. natürliche Personen, die insgesamt mindestens sieben Jahre in den letzten 12 Jahren nach § 1 Abs. 1 EStG unbeschränkt steuerpflichtig waren. Die bisherige starre Zehnjahresfrist wurde also stark modifiziert. Insbesondere bei Entsendungsfällen mit Aufenthaltszeiten in Deutschland zwischen den Auslandsaufenthalten ist nun Vorsicht geboten, da in diesen Fällen typischerweise sieben Jahre unbeschränkter Einkommensteuerpflicht in 12 Jahren insgesamt eher verwirklicht werden als zehn Jahre unbeschränkter Einkommensteuerpflicht am Stück.
Rz. 71
Bei Anteilserwerb durch zumindest teilweise unentgeltliches Rechtsgeschäft wird nach § 6 Abs. 2 S. 1 AStG n.F. weiterhin auch die Dauer der unbeschränkten Steuerpflicht des Rechtsvorgängers in die Zehnjahresfrist miteinbezogen. Perioden, in welchen der Rechtsvorgänger sowie sein Nachfolger gleichzeitig unbeschränkt steuerpflichtig sind, werden nur einmal berechnet, § 6 Abs. 2 S. 3 AStG n.F.
Rz. 72
Im Hinblick auf die im Schrifttum aufgegriffene Frage, wer denn in Todesfällen Steuerpflichtiger in den Fällen des § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a.F. bei Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht "durch Übertragung der Anteile durch ganz oder teilweise unentgeltliches Rechtsgeschäft durch Erwerb von Todes wegen auf nicht unbeschränkt steuerpflichtige Personen" ist, hat sich der Gesetzgeber nun in der Nachfolgevorschrift § 6 Abs. 1 Nr. 2 AStG n.F. etwas anders ausgedrückt. Nunmehr steht "bei unbeschränkt Steuerpflichtigen der Veräußerung von Anteilen" i.S.v. § 17 Abs. 1 S. 1 EStG zum gemeinen Wert "die unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person" gleich. War bei § 6 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AStG a.F. etwas kryptisch formuliert die "Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht durch Übertragung der Anteile durch ganz oder teilweise unentgeltliches Rechtsgeschäft" Tatbestandsmerkmal, ist es nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 AStG n.F. nun die tatsächliche "unentgeltliche Übertragung auf eine nicht unbeschränkt steuerpflichtige Person". Es darf auch hier bezweifelt werden, ob die Neufassung in der Rechtsanwendung handhabbarer geworden ist.
Rz. 73
Sachlich setzt die Norm das Halten von Anteilen i.S.v. § 17 Abs. 1 S. 1 EStG (Anteile i.H.v. mindestens 1 % am Kapital von in- oder ausländischen Kapitalgesellschaften innerhalb der letzten fünf Jahre) voraus. Noch nicht geklärt scheint, ob auch Anteile an zur Körperschafts...