Rz. 84
Erhält der Rechtsanwalt den Auftrag, die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels zu prüfen, entstehen eigene Gebühren nach den Nr. 2100 und 2101 VV RVG. Die Entgegennahme der Entscheidung und die Erörterung des Inhalts gehören immer noch zur vorhergehenden Instanz. Die Gebühren nach Nr. 2100 f. VV RVG entstehen erst mit der Beauftragung der Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels. Dabei ist es unerheblich, ob der Mandant selbst das Rechtsmittel einlegen will oder die Erfolgsaussichten der Gegenseite prüfen lassen will.
Sowohl der isolierte Auftrag zur Prüfung der Erfolgsaussichten also auch der bedingte Auftrag zur Einlegung des Rechtsmittels unter der Voraussetzung, dass die Prüfung positiv ausfällt, führen zum Entstehen der Gebühr. Erhält der Rechtsanwalt unbedingten Auftrag zur Einlegung des Rechtsmittels und rät im Ergebnis der Prüfung von der Einlegung des Rechtsmittels ab, hat er bereits die zum Verfahren gehörende Verfahrensgebühr verdient. Die Prüfung der Erfolgsaussichten ohne Auftrag des Mandanten löst andererseits keine Gebühr aus.
Formulierungsbeispiel
Es kann entscheidend sein, den konkreten Auftrag des Mandanten zu dokumentieren. Bei der Weiterleitung einer Entscheidung sollte die Antwort des Mandanten daher gut vorbereitet sein. Aus eigener Praxis kann ich empfehlen, dem Mandanten die in Betracht kommenden Optionen kurz aufzuzeigen:
"In der Anlage übersende ich Ihnen das Urteil. Ich halte die Auffassung des Gerichts für unzulänglich. Die Berufungsfrist läuft am 17.11.2021 ab. Wie wollen wir in der Sache verfahren?"
1. |
Wir legen keine Rechtsmittel ein und akzeptieren damit das Urteil. |
2. |
Ich prüfe die Erfolgsaussichten der Berufung noch einmal gründlich und wir halten dann Rücksprache oder |
3. |
Ich bereite die Berufung vor. Sollte ich Zweifel an den Erfolgsaussichten haben, werde ich Sie natürlich gern noch einmal kontaktieren.“ |
Rz. 85
Rechtsmittel können dabei nicht nur Berufung und Revision, sondern auch Beschwerde, Nichtzulassungsbeschwerde oder Rechtsbeschwerde sein. Erfasst sind aber nur die Rechtsmittel im engeren Sinne, die die Rechtskraft hemmen und einen Devolutiveffekt haben. Keine Rechtsmittel sind daher:
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der Widerspruch gegen den Mahnbescheid oder |
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der Einspruch gegen einen Vollstreckungsbescheid, |
▪ |
Erinnerungen gegen Entscheidungen des Rechtspflegers, |
▪ |
Urteils- oder Tatbestandsberichtigungsanträge, |
▪ |
Wiedereinsetzungsverfahren oder |
▪ |
die Gehörsrüge. |
Diese Tätigkeiten sind mit den RVG-Gebühren der jeweiligen Instanz abgedeckt. Erfolgt keine weitere Tätigkeit des Rechtsanwaltes in dieser Instanz, so hat der Rechtsanwalt eine Vereinbarung über die Beratungsvergütung zu treffen.
Rz. 86
Die Gebühren aus Nr. 2100 VV RVG sind auf die später anfallenden Verfahrensgebühren des geprüften Rechtsmittels anzurechnen. Praktisch führt dies dazu, dass diese Gebühr lediglich nennenswerte Folgen hat, wenn es nicht zur Einlegung des Rechtsmittels kommt. Daher hat diese Gebühr noch unter der BRAGO den Namen Abrategebühr erhalten.
Hinweis:
Da die Prüfung der Erfolgsaussichten als eigene Angelegenheit gilt, kann auf diese Gebühr auch eine gesonderte die Post- und Telekommunikationspauschale anfallen. Sofern für die Prüfung also Auslagen, wie kostenpflichtige Telefongespräche oder Porti getätigt wurden, kann es auch beim Zuraten zum Rechtsmittel Sinn machen, die Gebühr nach Nr. 2100 f. VV RVG abzurechnen.
Rz. 87
Die zu berechnende Gebühr beträgt nach Nr. 2100 VV RVG 0,5 bis 1,0 Gebühren, bei Ausarbeitung eines schriftlichen Gutachtens nach Nr. 2101 VV RVG 1,3 Gebühren. Die Mittelgebühr ist dabei bei 0,75 Gebühren anzusetzen. Abweichungen nach oben oder unten sind nach § 14 Abs. 1 RVG zu bestimmen.
Rz. 88
Beispiel:
Der Mandant erscheint mit einem Urteil, bei dem er mit einem Gegenstandswert von 6.600,00 EUR unterlegen ist. Er bittet den Rechtsanwalt um Prüfung der Erfolgsaussichten der Berufung. Danach beauftragt der die Durchführung der Berufung. Die Rechnung könnte wie folgt lauten:
Gegenstandswert: 6.600,00 EUR |
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0,75 Prüfungsgebühr, Nr. 2100 VV, § 13 RVG |
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334,50 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
Zwischensumme |
354,40 EUR |
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1,6 Verfahrensgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 3200 VV |
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713,60 EUR |
./. Anrechnung Prüfungsgebühr |
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– 334,50 EUR |
1,2 Terminsgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 3202 VV |
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535,20 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
|
20,00 EUR |
Zwischensumme |
934,30 EUR |
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Gesamt |
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1.288,70 EUR |
19 % Umsatzsteuer (MwSt.), Nr. 7008 VV |
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244,85 EUR |
Zahlbetrag: |
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1.533,55 EUR |