Rz. 102
Sobald in einem späteren gerichtlichen Verfahren eine Verfahrensgebühr nach Abschnitt 3 anfällt, so ist die Geschäftsgebühr zur Hälfte auf die Verfahrensgebühr anzurechnen; RVG Vorbem. Teil 3 (4). Der Anrechnungsbetrag ist in der Höhe auf 0,75 Gebühren bzw. die Höhe der angefallenen Verfahrensgebühr begrenzt. Über dem Mittelwert verdiente Geschäftsgebühren bleiben dem Rechtsanwalt damit erhalten. Ausschlaggebend für den Anrechnungsbetrag sind die um die Mehrvertretungsgebühr erhöhten Gebühren.
Rz. 103
Dabei kann die Anrechnung nur in dem Umfang erfolgen, wie derselbe Rechtsanwalt auch im Vorverfahren mit demselben Gegenstand tätig war. Der Wechsel des Rechtsanwaltes oder auch der Gegner zwischen vorgerichtlicher und gerichtlicher Tätigkeit lässt den Anrechnungstatbestand wegfallen. Ändert sich der Gegenstand der Tätigkeit, so wirkt sich dies auch auf die Anrechnung aus.
Beispiel:
Vorgerichtlich macht der Rechtsanwalt die offenen Mietforderungen von Januar bis Mai in Höhe von 1.000,00 pro Monat, also 5.000,00 EUR geltend. Im Laufe der Tätigkeit zahlt der Mieter dann für Januar und Februar die Miete. Im Klageverfahren macht der Rechtsanwalt sodann die Mieten von März bis August, also 6.000,00 EUR geltend. Es ergeht ein Urteil.
vorgerichtlich
Gegenstandswert: 5.000,00 EUR (Miete Jan – Mai)
1,3 Geschäftsgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 2300 VV |
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434,20 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
Zwischensumme |
454,20 EUR |
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gerichtlich Gegenstandswert: 6.000,00 EUR, davon vorgerichtlich geltend gemacht: 3.000,00 EUR |
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1,3 Verfahrensgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 3100 VV |
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507,00 EUR |
abzüglich 0,65 anzurechnende Geschäftsgebühr aus 3.000,00 EUR |
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– 144,30 EUR |
1,2 Terminsgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 3104 VV |
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468,00 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
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20,00 EUR |
Zwischensumme |
850,70 EUR |
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gesamt |
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1.304,90 EUR |
19 % Umsatzsteuer (MwSt.) aus 1.188,25 EUR, Nr. 7008 VV |
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247,93 EUR |
Endsumme |
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1.552,83 EUR |
Rz. 104
Die Post- und Telekommunikationspauschale wird aus den Gebühren vor Abzug der Anrechnung errechnet.
Rz. 105
Liegen zwischen der Erledigung der vorgerichtlichen Angelegenheit und der gerichtlichen Geltendmachung mehr als 2 Jahre, so liegt nach § 15 Abs. 5 S. 2 RVG eine neue Angelegenheit vor (vgl. Rdn 29). Damit entfällt auch die Anrechnung der Geschäftsgebühren auf die Verfahrensgebühr.
Rz. 106
Die Anrechnung findet nur statt, wenn die gleiche Angelegenheit vorgerichtlich und gerichtlich bearbeitet wird. Die Beurteilung wird dabei etwas weiter gehandhabt. So sind der Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung eines Mietverhältnisses und der nachfolgende Räumungsrechtsstreit stets so eng miteinander verknüpft, dass hier die Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die nachfolgende Verfahrensgebühr ausgelöst wird.
Rz. 107
Die Anrechnung erfolgt nicht nur auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG, sondern auch auf alle anderen Verfahrensgebühren des Abschnittes 3 (z.B. als Antragssteller- oder Antragsgegnervertreter im Mahnverfahren, in der Zwangsvollstreckung oder Zwangsversteigerung, bei Tätigkeit im Insolvenzverfahren oder im PKH-Bewilligungsverfahren).
Rz. 108
Keine Anrechnung hat zu erfolgen, wenn der Rechtsanwalt vorgerichtlich aufgrund einer Vergütungsvereinbarung tätig geworden ist. Hier sind keine gesetzlichen Gebühren abgerechnet worden.
Die Anrechnung kann auch in einer Vergütungsvereinbarung ausgeschlossen werden. Eine solche Vereinbarung dürfte sich jedoch nicht auf die von der Gegenseite zu erstattenden Kosten auswirken. Erstattungsfähig bleiben die erforderlichen Kosten. Der Ausschluss der Anrechenbarkeit ist für die Fallbearbeitung nicht erforderlich.
Fallen in einer Sache mehrere Verfahrensgebühren an, weil z.B. dem Klageverfahren noch ein Schlichtungsverfahren vorangeht, wird stets auf die erste anfallende Verfahrensgebühr angerechnet.
Sind mehrere vorgerichtliche Tätigkeiten auf die Verfahrensgebühr anzurechnen, so ist bei Aufträgen, die vor dem 1.1.2021 erteilt wurden, sämtliche entstandenen Geschäftsgebühren auf die Verfahrensgebühren anzurechnen gewesen. Nunmehr regelt § 15a Abs. 2 RVG, dass der Höchstbetrag der anzurechnenden Gebühren sich aus der Gebühr ergibt, die bei einer Addition aller Teilstreitwerte entstehen würde; vgl. Rdn 77 u.112.