Rz. 110
Nach dem Wortlaut der Vorbem. Teil 3 Nr. 4 ist die Geschäftsgebühr immer auf die Verfahrensgebühr anzurechnen. Dies hätte zur Folge, dass die Geschäftsgebühr stets in voller Höhe entsteht, und die Verfahrensgebühr dabei durch die Anrechnung gekürzt wird. Mit dieser Feststellung der schon in der BRAGO praktizierten Grundregel hat der BGH zunächst einige Verwirrung gestiftet. Hatte ein Mandant einen Kostenerstattungsanspruch für die gerichtlichen Kosten, aber nicht für die vorgerichtlichen Kosten, so führte es dazu, dass er geringere gerichtliche Kosten erstattet bekam, als hätte er vorgerichtlich keinen Rechtsanwalt beauftragt oder den Rechtsanwalt für das gerichtliche Verfahren gewechselt. Das war offensichtlich so nicht beabsichtigt, sodass am 30.7.2009 § 15a RVG zur Klarstellung eingefügt wurde, der inzwischen wie folgt lautet:
§ 15a Anrechnung einer Gebühr
(1) Sieht dieses Gesetz die Anrechnung einer Gebühr auf eine andere Gebühr vor, kann der Rechtsanwalt beide Gebühren fordern, jedoch nicht mehr als den um den Anrechnungsbetrag verminderten Gesamtbetrag der beiden Gebühren.
(2) Sind mehrere Gebühren teilweise auf dieselbe Gebühr anzurechnen, so ist der anzurechnende Betrag für jede anzurechnende Gebühr gesondert zu ermitteln. Bei Wertgebühren darf der Gesamtbetrag der Anrechnung jedoch denjenigen Anrechnungsbetrag nicht übersteigen, der sich ergeben würde, wenn eine Gebühr anzurechnen wäre, die sich aus dem Gesamtbetrag der betroffenen Wertteile nach dem höchsten für die Anrechnungen einschlägigen Gebührensatz berechnet. Bei Betragsrahmengebühren darf der Gesamtbetrag der Anrechnung den für die Anrechnung bestimmten Höchstbetrag nicht übersteigen.
(2) Ein Dritter kann sich auf die Anrechnung nur berufen, soweit er den Anspruch auf eine der beiden Gebühren erfüllt hat, wegen eines dieser Ansprüche gegen ihn ein Vollstreckungstitel besteht oder beide Gebühren in demselben Verfahren gegen ihn geltend gemacht werden.
Rz. 111
§ 15a Abs. 1 RVG regelt dabei lediglich die Berechnung der anzurechnenden Gebühren im Innenverhältnis. Die gesetzliche Formel lautet dabei:
Gesamtbetrag = anzurechnende Gebühr 1 + anzurechnende Gebühr 2 – Anrechnungsbetrag
Der Rechtsanwalt erhält damit ein Wahlrecht, ob er bereits im Prozess die verkürzte Geschäftsgebühr geltend machen möchte oder, ob er im Kostenfestsetzungsverfahren die Anrechnung vornehmen lassen. Lediglich im Ergebnis muss er die Anrechnung gelten lassen.
Praxistipp:
Das Wahlrecht erfordert teilweise taktische Überlegungen. So macht die Geltendmachung der vollen vorgerichtlichen Anwaltskosten dann Sinn, wenn es um die schnellstmögliche Titulierung des Anspruches geht. Ist die Einigung im Vergleichswege zu erwarten kann die Geltendmachung der vollen Geschäftsgebühr dazu führen, dass am Ende wegen der Anrechnung geringere Prozesskosten erstattet werden. Hier empfiehlt sich, entweder nur den nicht anrechnungsfähigen Teil der Geschäftsgebühren geltend zu machen oder im Rahmen der Vergleichsverhandlungen auf eine ausreichende Abgeltung der geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu achten.
Rz. 112
Werden mehrere Angelegenheiten, für die jeweils eine eigene Geschäftsgebühr entstanden und geltend gemacht worden ist, in einem Klageverfahren zusammengefasst, so fällt nur eine Verfahrensgebühr aus dem gesamten Klageverfahren an. Die Geschäftsgebühren wurden nach bisheriger Rechtsprechung jede für sich auf die Verfahrensgebühr angerechnet. Eine Obergrenze von 0,75 Gebühren sollte es dabei für die insgesamt anzurechnende Geschäftsgebühr nicht geben. Mit der Einführung des neuen § 15a Abs. 2 RVG zum 1.1.2021 wird die Anrechnung verständlicher geregelt. Nunmehr sollen die einzelnen Anrechnungsbeträge nach wie vor ermittelt werden. Der Gesamtbetrag der Anrechnung ist aber auf den Betrag gedeckelt, der sich aus der anzurechnenden Gebühr bei Addition aller Streitwerte ergibt.
Beispiel:
Der Rechtsanwalt mahnt offene Mietforderungen für einen Monat in Höhe von 1.000,00 EUR zunächst erfolglos bei einem Mieter an. Im Jahr darauf vertritt er den Vermieter ebenfalls außergerichtlich bei der Erklärung einer Mieterhöhung nach § 558 BGB über 150,00 EUR/Monat. Im Klageverfahren werden sowohl die offene Miete als auch der Anspruch auf Zustimmung zur Mieterhöhung gemeinsam geltend gemacht.
Die Gebühren errechnen sich wie folgt:
offene Mietforderung vorgerichtlich:
Gegenstandswert: 1.000,00 EUR
1,3 Geschäftsgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 2300 VV |
114,40 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
20,00 EUR |
Zwischensumme |
134,40 EUR |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
25,54 EUR |
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159,94 EUR |
Mieterhöhung vorgerichtlich:
Gegenstandswert: 1.800,00 EUR
1,3 Geschäftsgebühr, § 13 Abs. 1 RVG, Nr. 2300 VV |
215,80 EUR |
Auslagenpauschale für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen, Nr. 7002 VV |
20,00 EUR |
Zwischensumme |
235,80 EUR |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV |
44,80 EUR |
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280,60 EUR |
gerichtlich Gegenstandswert: 2.800,00 EUR |
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1,3 Verfahrensgebühr, § 13... |