Dr. iur. Nikolas Hölscher
aa) Meinungsstand
Rz. 35
Umstritten ist, ob der entferntere Pflichtteilsberechtigte konkret pflichtteilsberechtigt ist, wenn der näher Berechtigte nur enterbt wird. Die überwiegende Auffassung bejaht dies. Die Gegenansicht verneint dies und begründet dies vor allem damit, dass der Gesetzgeber zwar für die Ausschlagung (§ 1953 Abs. 2 BGB), die Erbunwürdigkeit (§ 2344 Abs. 2 BGB) und den unbeschränkten Erbverzicht (§§ 2346 Abs. 1 S. 2, 2349 BGB) eine Regelung getroffen hat, dass der Weggefallene so behandelt wird, als ob er den Erbfall nicht erlebt hätte. Eine solche Vorversterbensfiktion fehlt allerdings für die bloße Enterbung. Da der entferntere Pflichtteilsberechtigte, also etwa der Enkelsohn, daher nach § 1924 Abs. 3 BGB gar nicht in die gesetzliche Erbfolge eintrete, könne er auch gar nicht enterbt werden.
Bedeutsam wurde dies in dem vom BGH entschiedenen Fall: Dort hatte die Witwe ihren eigenen Sohn enterbt und ihm den Pflichtteil entzogen. Stattdessen hatte sie einen von dessen beiden Kindern zum Erben eingesetzt. Der nicht berücksichtigte Enkel macht nun einen Pflichtteilsanspruch gegenüber seinem Bruder geltend. Zu entscheiden war daher nun, ob allein durch eine Enterbung des Sohnes der Enkel einen eigenen Pflichtteilsanspruch erlangt.
Der BGH schloss sich der herrschenden Meinung an. Er begründete dies vor allem mit historischen Argumenten, da im ersten Entwurf der Redaktionskommission zum BGB eine derartige Vorversterbensfiktion des Enterbten vorgesehen war und der Wegfall bei der Gesetzesentstehung mehr oder weniger unabsichtlich passiert sei. Demnach werden die Fälle der gesetzlich geregelten Vorversterbensfiktion hier entsprechend angewandt. Offengelassen hat der BGH dabei, ob dies nur für den Fall einer negativen Verfügung von Todes wegen (§ 1938 BGB) gilt oder auch für die erschöpfende Einsetzung eines Dritten unter Übergehung des näher Pflichtteilsberechtigten.
bb) Folgerungen für die Praxis
(1) Fall der einfachen Enterbung
Rz. 36
Der dargestellte Meinungsstreit (siehe Rdn 35) ist im Normalfall der Enterbung eines Kindes und seiner Abkömmlinge ohne praktische Bedeutung. Ein Pflichtteilsanspruch der Enkel scheitert dann nach der Mindermeinung bereits daran, dass sie wegen des Repräsentationsprinzips des § 1924 Abs. 2 BGB überhaupt nicht zum Kreis der gesetzlichen Erben und demnach auch nicht zum Kreis der Pflichtteilsberechtigten gehören. Nach der h.M. und dem BGH entfallen ihre Pflichtteilsansprüche wegen § 2309 BGB, da bereits ein näherer Abkömmling den Pflichtteil verlangen kann. Der Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings schadet aber nicht, wenn der nähere den zu Unrecht geforderten Pflichtteil erhält.
(2) Sonderfall: Pflichtteilsentziehung beim näheren Abkömmling und Enterbung des entfernteren Abkömmlings
Rz. 37
Der Theorienstreit wird aber in dem vom BGH entschiedenen Fall bedeutsam, weil dem näher berechtigten Abkömmling dessen Pflichtteil wirksam entzogen wurde. Dann gibt es auf Grundlage der überwiegenden Meinung nichts, was den pflichtteilsentfernteren Abkömmling nach § 2309 BGB ausschließen könnte. Nach der überwiegenden Auffassung, die der BGH gebilligt hat, wird der näher Pflichtteilsberechtigte durch seine Enterbung wie vorverstorben behandelt, so dass nunmehr der Enkel pflichtteilsberechtigt ist. Wegen der Pflichtteilsentziehung des Sohnes droht in dem vom BGH entschiedenen Fall keine Verdoppelung von Pflichtteilsansprüchen mehr, so dass der enterbte Enkel nunmehr einen Pflichtteilsanspruch gegen seinen Bruder, der zum Erben eingesetzt wurde, hat, und zwar in Höhe eines Viertels (§ 2303 Abs. 1 S. 1 BGB).
(3) Sonderfall: Elternpflichtteil und Pflichtteilsverzicht
Rz. 38
Noch nicht abschließend geklärt ist, ob sich aus dieser Rspr. zur analogen Anwendung der Vorversterbensfiktion auf die Enterbung des näher Pflichtteilsberechtigten für eine gängige Testamentsgestaltung unliebsame, bisher nicht bedachte Folgen ergeben. Dies betrifft folgende häufige Gestaltung: Bei der Errichtung eines Berliner Testaments von Ehegatten (§ 2269 BGB) entstehen durch die gegenseitige Erbeinsetzung der Eheleute für den Fall des Todes des Erstversterbenden für ihre Abkömmlinge Pflichtteilsansprüche. Dies versucht man u.a. dadurch zu vermeiden, dass die Kinder für den Fall des Todes des Erstversterbenden ihrer Eltern einen Pflichtteilsverzicht abgeben. Dieser wirkt wegen der Erstreckungswirkung des § 2349 BGB auch gegen die Abkömmlinge der verzichtenden Kinder, was regelmäßig auch so gewollt ist. Probleme entstehen aber dann, wenn der zuerst verstorbene Ehegatte daneben auch noch einen Elternteil hinterlässt. Auf der Grundlage der überwiegenden Auffassung (...