Dr. iur. Alexander Weinbeer
Rz. 772
Die Pflicht, einen Gerichtstermin wahrzunehmen und ein Versäumnisurteil zu verhindern, jedenfalls in diesem Zusammenhang Schaden von dem Mandanten abzuwenden, gehört zu den Grundrechten des Anwalts. Ein Rechtsanwalt verletzt seine Pflichten, wenn er einen Gerichtstermin versäumt, zu dem festgesetzten Termin mit erheblicher Verspätung erscheint und nicht für seine Vertretung gesorgt hat. Dann kann gegen die Partei ein Versäumnisurteil erlassen werden. Je nach dem Grund der Säumnis ist allerdings zu prüfen, ob den Rechtsanwalt auch Verschulden trifft/ob er schuldhaft gehandelt hat.
Rz. 773
Der Prozessbevollmächtigte, der zu einem auswärtigen Gerichtstermin anzureisen hat, ist bei der Auswahl des öffentlichen Verkehrsmittels grds. frei, er kann sich auch für das Flugzeug entscheiden. Bezieht der Prozessbevollmächtigte einen Inlandsflug in die Reiseplanung ein, braucht er für die Bemessung von Pufferzeiten für den Übergang zu einem Anschlussverkehrsmittel grds. keine Verzögerungen von mehr als einer Stunde in Rechnung zu stellen. Eine auf die Entwicklung der Wetterverhältnisse zur geplanten Flugzeit ausgerichtete Beobachtungspflicht trifft den Prozessbevollmächtigten nur bei bereits bestehenden oder angekündigten Schlechtwetterlagen, welche die Durchführung der Reise wahrscheinlich verhindern.
Rz. 774
Eine Pflichtverletzung des Prozessbevollmächtigten liegt vor, wenn er nach Erlass des ersten Versäumnisurteils bewusst seine Mandantin nicht unterrichtet hat und sich eine Weisung eingeholt hat. Der Rechtsanwalt hätte, auch ohne Rücksprache mit dem Mandanten, auf jeden Fall den Gerichtstermin wahrnehmen müssen, um ein zweites Versäumnisurteil zu vermeiden.
Rz. 775
Die Säumnis wegen straßenverkehrsbedingter Verhinderung des Rechtsanwalts ist unverschuldet, wenn er das Gericht rechtzeitig über seine Verspätung und seine voraussichtliche Ankunftszeit unterrichtet und sich ansonsten rechtzeitig auf den Weg gemacht hat, sodass er ohne das Verkehrshindernis den Termin rechtzeitig hätte erreichen können.
Rz. 776
Nach einer "Flucht in die Säumnis" ist der Anwalt grds. verpflichtet, auch ohne ausdrückliche Weisung des Mandanten Einspruch gegen das Versäumnisurteil einzulegen. Hält er jedoch nach eingehender Prüfung der Erfolgsaussichten eine Fortsetzung des Verfahrens für aussichtslos, hat er rechtzeitig vor Fristablauf mit dem Mandanten Rücksprache zu halten und dessen Entscheidung einzuholen.
Rz. 777
Auch wenn der Mandant der Bitte um Rücksprache nicht nachkommt, hat der Anwalt den Einspruch gegen einen Versäumnisbeschluss zu begründen, soweit ihm das nach Aktenlage möglich ist, und den Einspruchstermin wahrzunehmen. Der Mandant erleidet einen erstattungsfähigen Schaden, wenn er einen Prozess verloren hat, den er bei sachgemäßer anwaltlicher Vertretung gewonnen hätte. Insofern kommt es darauf an, wie der Vorprozess nach Auffassung des Regressgerichts richtigerweise hätte entschieden werden müssen. Dabei hat es von dem Sachverhalt auszugehen, der dem Gericht des Vorprozesses unterbreitet und von diesem aufgeklärt worden wäre.
Rz. 778
Darüber hinaus hat der Rechtsanwalt ein Versäumnisurteil zu beantragen, wenn der Prozessgegner säumig ist, dies entspricht dem Interesse des Mandanten.
Rz. 779
Veranlasst die Geschäftsstelle des Gerichts die nochmalige Zustellung eines Versäumnisurteils, weil sie irrig davon ausgeht, die bereits erfolgte Zustellung sei wegen fehlender Belehrung über den Einspruch unwirksam, so wird der bereits mit der ersten Zustellung ausgelöste Lauf der Einspruchsfrist davon nicht berührt. Etwas anderes folgt auch nicht aus den europarechtlichen Vorgaben für eine Bestätigung des Versäumnisurteils als Europäischer Vollstreckungstitel. Den Rechtsanwalt, der sich wegen der wiederholten Zustellung beim Gericht nach dem Grund erkundigt und von der Geschäftsstelle die nicht näher erläuterte Auskunft erhält, die erste Zustellung sei unwirksam und könne als gegenstandslos betrachtet werden, trifft jedenfalls dann kein Verschulden, wenn die Auskunft nicht offensichtlich fehlerhaft ist. Eine Pflicht zu einer weiteren Nachfrage nach dem konkreten Grund der Unwirksamkeit trifft ihn nicht. Hat das erstinstanzliche Gericht den Einspruch als zulässig behandelt und in der Sache entschieden und wird die Versäumung der Einspruchsfrist erst vom Berufungsgericht aufgedeckt, so ist die Versäumung der Wiedereinsetzungsfrist nach § 234 Abs. 3 ZPO allein dem Gericht zuzurechnen und steht einer Wiedereinsetzung nicht entgegen.
Rz. 780
Gefährlich kann ein Versäumnisurteil auch in den Konstellationen sein, in denen bei einem Endurteil eine Klageabweisung als "derzeit unbegründet" erfolgen würde. Denn die Rechtskraft eines klageabweisenden Versäumnisurteils steht nach Auffassung des BGH einer erneuten gerichtlichen Geltendmachung des eingeklagten Anspruchs entgegen, weil die Klageabweisung dabei "allein aufgrund der Säumnis des Klägers mit der Wirkung, daß er mit seiner Klage schlechthin abgewiesen wird“ ...