Rz. 244
Die Ersatzpflicht ist gem. § 7 Abs. 2 StVG nur noch ausgeschlossen, wenn der Unfall durch höhere Gewalt verursacht wird. Der Begriff der höheren Gewalt wurde dem § 1 Abs. 2 S. 1 des HPflG entnommen, der für Bahnbetriebsunfälle gilt.
Rz. 245
Höhere Gewalt ist danach ein betriebsfremdes, außergewöhnliches, von außen durch elementare Naturkräfte oder Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung nicht vorhersehbar ist, mit wirtschaftlichen Mitteln durch die äußerste, vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betreiber hinzunehmen ist (BGH NJW 1986, 2312; 1990, 1167).
Rz. 246
Um das Vorliegen höherer Gewalt zu bejahen, müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein:
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Einwirken eines Umstandes außerhalb des Betriebs des Fahrzeugs |
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Außergewöhnlichkeit der Einwirkung von außen, mit der nicht gerechnet werden kann |
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Unabwendbarkeit des Ereignisses, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist und mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste, nach der Sachlage zu erwartende Sorgfalt nicht vermieden werden kann (BGH VersR 1986, 92). |
Rz. 247
Das bedeutet seit dem 1.8.2002, dass bei Unfällen im Straßenverkehr der Entlastungsbeweis durch den Nachweis höherer Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG gegenüber nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern praktisch nicht mehr zu führen sein wird. Dies schützt und ist von Nutzen insbesondere für Kinder, aber auch sonstige Fußgänger, Radfahrer und andere nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer.
Rz. 248
Die nach außen hin bestechende Einführung einer Entlastungsmöglichkeit nur noch bei Vorliegen höherer Gewalt wird aber bei Verkehrsunfällen von Kraftfahrzeugen, Bahnen oder einem Tier untereinander durch die Haftungsausgleichungsbestimmung des § 17 Abs. 3 StVG letztlich auf den bisherigen Stand des Nachweises eines unabwendbaren Ereignisses nach bisheriger Rechtsprechung zurückgeführt.
Rz. 249
Angesichts der strengen Maßstäbe, die schon die frühere Rechtsprechung zum Nachweis des Vorliegens eines unabwendbaren Ereignisses im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG a.F. aufgestellt hat, stellt das nunmehr mit der Änderung im Jahr 2002 eingeführte Abstellen auf höhere Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG zwar eine Verschärfung dar, die jedoch nur nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern (Kindern, Fußgängern, Radfahrern oder Insassen) zugutekommt.
Rz. 250
Wenn aber diesen nicht motorisierten Verkehrsteilnehmern – mit Ausnahme von Kindern bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres – eine Mitschuld am Zustandekommen des Unfalls anzulasten ist (§ 254 BGB), kann dies trotzdem dazu führen, dass der Verursachungsbeitrag des Kraftfahrzeughalters nur sehr geringes Gewicht hat, etwa bei einem erheblichen Verschulden des Fußgängers oder Radfahrers, mit der Folge, dass dann auch die Haftung aus § 7 Abs. 1 StVG bei der Abwägung unter Zugrundelegung des § 254 BGB völlig zurücktreten kann.
Rz. 251
Verletzte nicht motorisierte Verkehrsteilnehmer profitieren somit von der Verschärfung der Haftung durch die Einführung der Entlastungsmöglichkeit nur bei Vorliegen höherer Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG, wenn ihnen kein Mitverschulden nach § 254 BGB anzulasten ist. Die Beweislast für das Mitverschulden des nicht motorisierten Verkehrsteilnehmers trifft aber den Halter nach § 7 Abs. 1 StVG.
Beispiele
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Ein Kraftfahrer erleidet einen tödlichen Herzinfarkt. Sein Kraftfahrzeug fährt infolgedessen in ein Schaufenster einer Apotheke und verletzt eine Person tödlich und mehrere Personen schwer ("Ein Toter saß am Steuer"). |
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Ein Beifahrer erleidet einen Schwächeanfall, infolgedessen er dem Fahrer so ins Steuer fällt, dass dieser die Kontrolle über das Fahrzeug verliert und in den Gegenverkehr gerät (OLG Koblenz r+s 2019, 604). |
Rz. 252
Da der Kraftfahrer seinen tödlichen Herzinfarkt nicht voraussehen konnte, handelte er nicht schuldhaft, sodass eine Haftung nach § 823 BGB – und damit nach früherem Recht auch jeglicher Schmerzensgeldanspruch der Verletzten – entfallen wäre. Der tödliche Herzinfarkt des Kraftfahrers ist aber keine "höhere Gewalt" im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG, sodass den Verletzten durch § 7 StVG i.V.m. § 253 BGB auch Schmerzensgeld geschuldet wird.
Ebenso stellt im zweiten Beispiel der Schwächeanfall des Beifahrers auch für den Halter des Fahrzeugs im Gegenverkehr (Unfallgegner) keine höhere Gewalt dar, sodass dieser dem Beifahrer, der den Schwächeanfall erlitten hat, gegenüber voll haftet (OLG Koblenz r+s 2019, 604). Jedoch gelten auch hier, wie vorstehend ausgeführt, die Haftungshöchstgrenzen des § 12 bzw. 12a StVG.