Rz. 855
Nach dem Eigenverantwortungsprinzip des § 1602 obliegt demjenigen, der einen Verwandten aufgrund eines Unterhaltstatbestands berechtigt in Anspruch nimmt, zunächst seine Arbeitskraft zu verwerten sowie zumutbare Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Verletzt der Unterhalt begehrende Verwandte eine solche Obliegenheit, wird auf fiktive und somit anrechenbare Einkünfte abgestellt.
(1) Erwerbsobliegenheit im Allgemeinen
Rz. 856
Volljährige Kinder sind vom Grundsatz her dazu verpflichtet, zur Deckung des eigenen Lebensbedarfs eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.
Rz. 857
Vor einer unterhaltsrechtlichen Einstandspflicht seiner Eltern muss der gesunde Volljährige daher grundsätzlich – auch unter Ortswechsel – jede Arbeitsmöglichkeit ausnutzen und alle sich ihm bietenden, auch berufsfremde und einfachste Tätigkeiten bzw. Arbeiten unterhalb seiner gewohnten Lebensstellung bzw. ggf. unterhalb seines Ausbildungsniveaus annehmen, auch wenn es ihm nicht gelingt, einen Arbeitsplatz in seinem erlernten Beruf zu finden, wenn die Anforderungen des Arbeitsplatzes seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten nicht übersteigen. Auf Arbeitslosigkeit kann er sich daher nicht berufen. Kommt ein Volljähriger seiner zumutbaren Erwerbsobliegenheit nicht nach, entfällt seine Bedürftigkeit in Höhe eines erzielbaren Erwerbseinkommens.
Rz. 858
Ein Jugendlicher, der die Schule nicht mehr besucht und auch keine Ausbildung absolviert, ist daher nicht bedürftig. Er ist vielmehr zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet. Kommt er dieser Erwerbsobliegenheit nicht nach, so muss er sich in erzielbarer Höhe fiktive Einkünfte, die er bedarfsdeckend einzusetzen hat, zurechnen lassen.
(2) Erwerbsobliegenheiten bei Betreuung eines Kindes
Rz. 859
Grundsätzlich gilt der Grundsatz der Eigenverantwortung auch dann, wenn der Volljährige ein eigenes minderjähriges Kind betreut. Der Umfang der Unterhaltspflicht von Verwandten ist der Mitverantwortung des anderen Ehegatten für das gemeinsame Kind nicht gleichzusetzen. Sieht man dies allerdings – wie der BGH – großzügiger, ist jedenfalls zu verlangen, dass die unterhaltspflichtigen Eltern des betreuenden Unterhaltsgläubigers soweit wie möglich durch die Aufnahme einer Teilzeittätigkeit zu entlasten sind (Vgl. Rdn 725 ff.). Dies gilt insbesondere dann, wenn der andere Elternteil oder ein mit der Mutter zusammenlebender Dritter die Betreuung des Kindes übernehmen kann, erst recht, wenn Fremdbetreuung möglich ist.
(3) Erwerbsobliegenheiten von Kindern in Notlagen
Rz. 860
Kranken und behinderten Kindern gegenüber bleiben die Eltern – auch nach Eintritt der Volljährigkeit – voll unterhaltspflichtig (Vgl. Rdn 731 ff.), wenn und soweit der Lebensbedarf nicht durch (anrechenbare) Leistungen Dritter gedeckt ist und/oder die betroffenen Kinder ihn nicht durch zumutbare eigene Erwerbstätigkeit teilweise oder insgesamt decken können. Fiktives Erwerbseinkommen ist anrechenbar, wenn das Kind entweder mögliche und zumutbare Teilerwerbstätigkeit nicht leistet oder wenn es gegen Obliegenheiten zur Wiedereingliederung verstößt. Alkoholismus begründet als Krankheit ebenso wie Unterhaltsneurose zunächst Unterhaltsbedürftigkeit. Ein solcher Unterhaltsanspruch ist jedoch zum einen durch Verletzung der Obliegenheit begrenzt, alle zur Gesundung und Wiedereingliederung in das Erwerbsleben zumutbaren Maßnahmen einzuleiten, zum anderen durch § 1611.