§ 2 Kollektivarbeitsrecht / aa) Einführung

Rz. 84

Für die Ausgestaltung der Arbeitnehmerbeteiligung in der SE gilt der Vorrang der Verhandlungslösung. Die Regelungen über den SE-Betriebsrat kraft Gesetzes (§§ 23 bis 33 SEBG) bzw. die Regelungen über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer kraft Gesetzes (§§ 35 bis 38 SEBG) greifen nur subsidiär (sog. gesetzliche Auffanglösung). Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer soll vorrangig durch eine Vereinbarung geregelt werden.^[285] Die Arbeitnehmerseite wird in diesen Verhandlungen durch ein sog. besonderes Verhandlungsgremium (im Folgenden: "BVG") vertreten. Das BVG wird allein für den Zweck der Verhandlung einer Beteiligungsvereinbarung im Sinne von § 21 SEBG errichtet.

Rz. 85

Der Abschluss des Verhandlungsverfahrens über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE stellt eine zwingende Gründungsvoraussetzung für die SE dar. Das Verhandlungsverfahren kann auf drei verschiedene Arten beendet werden:

▪	Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung nach § 21 SEBG
▪	Beschluss des BVG, keine Verhandlungen aufzunehmen oder die Verhandlungen abzubrechen (§ 16 SEBG)
▪	Ablauf der sechsmonatigen Verhandlungsfrist ohne erfolgreichen Abschluss einer Beteiligungsvereinbarung (§ 22 Abs. 1 Nr. 2 SEBG)

Die Regelungen des SEBG haben keine Auswirkungen auf die nationalen Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung. Die betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen des BetrVG und des SprAuG bleiben gemäß § 47 Abs. 1 SEBG uneingeschränkt anwendbar.^[286] Die Regelungen des Europäische Betriebsräte-Gesetzes ("EBRG") finden hingegen grds. keine Anwendung, § 47 Abs. 1 Nr. 2 SEBG. Der Europäische Betriebsrat und der SE-Betriebsrat erfüllen ähnliche Funktionen und schließen einander aus.^[287] Dies gilt nur dann nicht, wenn das BVG einen Beschluss nach § 16 SEBG gefasst hat. In diesem Fall scheidet die gesetzliche Errichtung eines SE-Betriebsrats ("Auffanglösung") gemäß § 16 Abs. 2 SEBG aus. Die grenzüberschreitenden Anhörungs- und Unterrichtungsrechte richten sich dann allein nach dem EBRG.^[288]

Rz. 86

Nicht anwendbar auf die SE sind die nationalen Regelungen zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer auf Unternehmensebene (DrittelbG, MitbestG, MontanMitbestG, MontanMitbestErgG).^[289] Das SEBG regelt die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der SE abschließend und ist insoweit lex specialis.^[290] Dies gilt auch dann, wenn das BVG nach § 16 Abs. 1 S. 1 SEBG beschließt, keine Verhandlungen aufzunehmen oder laufende Verhandlungen abzubrechen.^[291] In diesem Fall findet gemäß § 16 Abs. 2 SEBG die gesetzliche Auffanglösung keine Anwendung und die SE bleibt mitbestimmungsfrei.^[292]

Die Vereinbarung zwischen den Leitungen und dem BVG soll der Sicherung der Rechte auf grenzüberschreitende Unterrichtung, Anhörung, Mitbestimmung und sonstige Beteiligung der Arbeitnehmer dienen, § 1 Abs. 2 SEBG. Wie dieses Ziel erreicht wird, regeln die Verhandlungspartner im Rahmen ihrer Vertragsautonomie frei. Deshalb bestehen im Rahmen der Verhandlungen erhebliche Gestaltungsspielräume.^[293] Insbesondere können die Parteien in der Beteiligungsvereinbarung auch negativ von den in den §§ 28, 29 SEBG vorgesehenen Unterrichtungs- und Anhörungsrechten des SE-Betriebsrats abweichen.^[294]

Die Rechtsnatur der Beteiligungsvereinbarung ist gesetzlich nicht geregelt. Das BAG hat jüngst die h.M. in der Literatur bestätigt, wonach es sich um einen privatrechtlichen Kollektivvertrag sui generis handelt.^[295] Dies ergibt sich daraus, dass die Beteiligungsvereinbarung Rechtswirkungen über die Vertragsparteien hinaus entfaltet und es sich folglich um eine Vereinbarung mit normativer Wirkung handelt.^[296] Die Beteiligungsvereinbarung wird demnach wie ein Normenvertrag ausgelegt.^[297]

Rz. 87

§ 21 SEBG stellt formelle und inhaltliche Mindestvorgaben für eine wirksame Beteiligungsvereinbarung auf. In formeller Hinsicht setzt § 21 SEBG Schriftform i.S.v. § 126 BGB voraus, andernfalls ist sie unwirksam.^[298]

Regelungen über die Unternehmensmitbestimmung sind mit Ausnahme des in § 21 Abs. 6 SEBG geregelten Falls nicht zwingend.^[299] Nach § 21 Abs. 6 SEBG muss in Umwandlungsfällen in der Vereinbarung in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der umzuwandelnden Gesellschaft besteht.^[300] Die Autonomie der Verhandlungspartner wird also stark begrenzt. Dadurch soll ein strenger Bestandsschutz gewährleistet werden, um bei einer Identität der Belegschaft eine "Flucht aus der Mitbestimmung" zu verhindern.^[301] Umstritten ist, ob bei der Anwendung des § 21 Abs. 6 SEBG auf den "Ist-Zustand" – also das tatsächlich bestehende Mitbestimmungsniveau vor der Umwandlung – oder auf den "Soll-Zustand" – also die gesetzlich gebotene Mitbestimmung – abzustellen ist.^[302] Der BGH hat für den Fall einer durch formwechselnde Umwandlung gegründeten, dualistisch aufgebauten SE entschieden, dass sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrats bei Anwendung der gesetzlichen Auffanglösung jedenfalls dann nach dem "Soll-Zustand" richtet, wenn vor der Eintragung...