Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 168
Der Arbeitgeber kann eine mitbestimmungspflichtige Maßnahme nach § 87 Abs. 1 BetrVG nur mit Zustimmung des Betriebsrats durchführen.
Rz. 169
Hinweis
Hierzu bedarf es der Entscheidung im Gremium nach ordnungsgemäßer Ladung, der Beschlussfähigkeit des Betriebsrats (§ 33 BetrVG) und der durch Abstimmung herbeigeführten Willensbildung. Eine nicht von einem wirksamen Betriebsratsbeschluss umfasste Erklärung des Vorsitzenden führt nicht zu einer wirksamen Betriebsvereinbarung. Allerdings besteht die Möglichkeit der Heilung durch spätere ordnungsgemäße Beschlussfassung und Genehmigung.
Lange umstritten war, ob die Beschlussfassung stets nur in einer Präsenzsitzung wirksam erfolgen kann oder ob in den Fällen, in denen eine solche (z.B. pandemiebedingt) nicht durchgeführt werden kann, Video- und/oder Telefonkonferenzen für die Durchführung einer Sitzung zur ordnungsgemäßen Beschlussfassung ausreichend sind.
Der Gesetzgeber hat hierauf im Jahr 2021 mit der Einführung des § 30 Abs. 2 BetrVG reagiert. Die Teilnahme an einer Betriebsratssitzung darf mittels Video- und Telefonkonferenz erfolgen, wenn
1. |
die Voraussetzungen für eine solche Teilnahme in der Geschäftsordnung des Gremiums unter Sicherung des Vorrangs der Präsenzsitzung festgelegt sind, |
2. |
nicht mindestens ein Viertel der Mitglieder des Betriebsrats binnen einer von dem Vorsitzenden zu bestimmenden Frist diesem gegenüber widerspricht und |
3. |
sichergestellt ist, dass Dritte vom Inhalt der Sitzung keine Kenntnis nehmen können. |
Die Aufzeichnung der Sitzung ist unzulässig.
Rz. 170
Gelingt eine Verständigung nicht und will der Arbeitgeber eine Regelung herbeiführen, bedarf es gemäß § 87 Abs. 2 BetrVG der Anrufung der Einigungsstelle. Für die Ausübung des Mitbestimmungsrechts reicht es insbesondere nicht, wenn der Betriebsrat zu erkennen gibt, er sehe kein Mitbestimmungsrecht, und dem Arbeitgeber in einer mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit ohne inhaltliche Mitgestaltung "freie Hand" gibt. In der Praxis dürfte die Handhabung in diesen Fällen aber eine andere sein und die tatsächliche Anrufung der Einigungsstelle eher die Ausnahme darstellen – was zur Folge hat, dass das Risiko der "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung" (siehe hierzu Rdn 172) beim Arbeitgeber verbleibt.
Rz. 171
Welche Rechtsfolgen ein mitbestimmungswidriges Verhalten des Arbeitgebers auslöst, der eine Maßnahme ohne Betriebsratsbeteiligung (bzw. ordnungsgemäße Beschlussfassung) durch (damit formunwirksame) Betriebsvereinbarung, einseitige Weisung oder Vereinbarung mit betroffenen Arbeitnehmern durchführt, ist durch das BetrVG nicht geregelt (anders als etwa in §§ 101, 102 Abs. 1 S. 2 BetrVG für personelle Angelegenheiten bzw. Kündigungen).
Rz. 172
Das BAG hat schon früh entschieden, dass – trotz des Fehlens einer gesetzlichen Sanktion – das mitbestimmungswidrige Verhalten des Arbeitgebers auf individualrechtlicher Ebene zur Unwirksamkeit aller mitbestimmungswidrigen Weisungen und Abreden zum Nachteil des Arbeitnehmers führt (sog. Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung).
Rz. 173
Hinweis
Die beschriebene Rechtsfolge der individualrechtlichen Unwirksamkeit entfaltet insbesondere auf dem Gebiet der Entgeltgestaltung (vor allem bei der einseitigen Ablösung einer Vergütungsordnung, Widerruf von freiwilligen Zulagen) sowie der Arbeitszeit (bei der einseitigen Anordnung von Überstunden oder Kurzarbeit, einseitiger Wechsel in ein anderes Schichtmodell) hohe praktische Bedeutung.
So entschied das BAG im Fall einer mitbestimmungswidrigen Änderung der Entlohnungsgrundsätze durch den Arbeitgeber, dass die betroffenen Arbeitnehmer mit Hinweis auf die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzungen eine Vergütung auf Grundlage der zuvor geltenden Entlohnungsgrundsätze fordern können.
Wichtig:
Eine nachträgliche Zustimmung des Betriebsrats heilt die Unwirksamkeit einer vom Arbeitgeber einseitig getroffenen Maßnahme nicht.
Rz. 174
Kollektivrechtlich führt ein Verstoß gegen die zwingende Mitbestimmung zu einem Anspruch des Betriebsrats gegen den betriebsverfassungswidrig handelnden Arbeitgeber auf Unterlassung der Maßnahme. Dieser betriebsverfassungsrechtliche Unterlassungsanspruch ergibt sich nach der Rechtsprechung aus § 2 Abs. 1 i.V.m. § 87 BetrVG. Er kann auch im Wege der einstweiligen Verfügung nach § 85 ArbGG durchgesetzt werden. Wirkt die belastende Maßnahme fort, kann der Betriebsrat verlangen, dass sie rückgängig gemacht wird, allerdings nicht grenzenlos: Nach dem BAG erfasst der dem Betriebsrat zustehende Beseitigungsanspruch nur die Beendigung des verfassungswidrigen Zustands, nicht jedoch die Rückgängigmachung aller aus der Verletzung resultierenden Folgen. Besteht bereits eine Betriebsvereinbarung, kann der Betriebsrat auf deren Einhaltung klagen.
Soweit der Betriebsrat selbst gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen hat, kann er sich aufgrund des Einwands der unzulässigen Rechtausübung nicht auf den Unterlassungsanspruch berufen.
Rz. 175
Die Verle...