Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
aa) Typischer Sachverhalt
Rz. 494
Ein Arbeitnehmer ist seit vielen Jahren bei seinem Arbeitgeber beschäftigt. Der Gesundheitszustand des Arbeitnehmers hat sich in den letzten Jahren der langen Betriebszugehörigkeit verschlechtert. Es kommt zu erheblichen Arbeitsunfähigkeitszeiten mit Ausfallquoten bis zu 75 %, teilweise liegen diese über einen mehrjährigen Zeitraum bei 100 %. Nachdem der Arbeitgeber von seinem Arbeitnehmer keine hinreichend klaren Angaben über die weitere Gesundheitsprognose erhält, kündigt er das Arbeitsverhältnis.
bb) Betriebliches Eingliederungsmanagement und Bestandsschutz
Rz. 495
Das betriebliche Eingliederungsmanagement wurde bereits im Jahr 2004 eingeführt und hat nach wie vor eine große Bedeutung für die betriebliche Praxis zur Sicherung der Teilhabe im Arbeitsleben, wie ein Vielzahl von Urteilen und darauf basierende Literaturmeinungen zeigen. Gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX (§ 84 Abs. 2 SGB IX a.F.) ist der Arbeitgeber eben seit 2004 verpflichtet, bei Beschäftigten, die innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig sind, ein betriebliches Eingliederungsmanagement (BEM) durchzuführen. Es handelt sich hierbei um ein frühzeitiges Präventions- und Integrationsverfahren. Das Gesetz selbst enthält keine konkreten Aussagen darüber, unter welchen Voraussetzungen ein solches Eingliederungsmanagement durchzuführen ist und insbesondere, welche rechtlichen Konsequenzen das Unterbleiben eines oder ein fehlerhaft durchgeführtes BEM hat. Es benennt lediglich die zu beteiligenden Personen und Stellen und fordert vom Arbeitgeber, mit den zuvor genannten Stellen die Möglichkeiten zu erörtern, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden kann und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Das Gesetz "zwingt" den Arbeitgeber damit, die Initiative für das BEM zu ergreifen, ohne ihm jedoch aufzuerlegen, welche Mittel er auf jeden Fall oder auf gar keinen Fall in Erwägung zu ziehen hat. Selbiges gilt für bestimmte Ergebnisse, die das Eingliederungsmanagement haben muss bzw. nicht haben darf. Hinter allem steht das Ziel, mit dem – ordnungsgemäß durchgeführten – BEM im Rahmen einer rechtzeitigen Klärung mit eventuell durchzuführenden notwendigen Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt wird. Das BEM soll erkrankten Mitarbeitern helfen, ihnen aber nicht drohen und muss zugleich für alle Beteiligten rechtssicher sein. Eine für alle Fälle greifende Patentlösung gibt es nicht, vielmehr hängt der Erfolg oder Misserfolg eines jeden BEM-Verfahrens von den handelnden Personen im jeweiligen Unternehmen und der gewählten Unterstützungsform ab. Um über die Erfolge oder auch Verbesserungen eines durchgeführten bzw. durchzuführenden BEM-Verfahrens neue Erkenntnisse zu erlangen, hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine empirische Studie gefördert, aus der eine Reihe von Erkenntnissen des BEM in Deutschland abgeleitet werden können.
Von dem BEM ist die Gefährdungsbeurteilung abzugrenzen, die einen präventiven Ansatz verfolgt. § 167 Abs. 2 SGB IX zielt dagegen darauf ab, einer bereits eingetretenen Arbeitsunfähigkeit insoweit Rechnung zu tragen, als dass mit allen am BEM Beteiligten versucht wird, Maßnahmen zu ergreifen, die einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorbeugen.
cc) Erfasster Personenkreis
Rz. 496
Zunächst ist der Anwendungsbereich des § 167 Abs. 2 SGB IX zu festzulegen. Nach dem Gesetzeswortlaut ist das BEM bei Beschäftigten durchzuführen. Fraglich ist, was unter Beschäftigten im Sinne des § 167 Abs. 2 SGB IX zu verstehen ist. Nach einer Auffassung spricht die Gesetzessystematik dafür, den Anwendungsbereich dieser Norm einzugrenzen. § 167 Abs. 2 SGB IX steht im Teil 2 des SGB IX, der gem. § 151 SGB IX nur für Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen gilt. Auch aus der Gesetzesbegründung lässt sich herleiten, dass der Anwendungsbereich des § 167 SGB IX auf Schwerbehinderte und diesen gleichgestellte behinderte Menschen zu begrenzen ist. Dort heißt es: "Vom Gesetz vorgesehen wird, dass bei den gesundheitlichen Störungen zukünftig mit Zustimmung des betroffenen behinderten Arbeitnehmers eine gemeinsame Klärung möglicher Maßnahmen durch alle Beteiligten (Arbeitgeber, betriebliche Interessenvertretung, Schwerbehindertenvertretung, Integrationsamt, gemeinsame Servicestelle sowie Werks- oder Betriebsarzt) erfolgen soll, um kurzfristig Beschäftigungshindernisse überwinden und den Arbeitsplatz durch Leistungen und Hilfen erhalten zu können".
Nach der Rechtsprechung und der Mehrheit in der Literatur gilt die Vorschrift jedoch für alle Arbeitnehmer und nicht nur für die behinderten Menschen.