BEM in der Praxis: Beispiel Hugo Boss

Eine Analyse des betrieblichen Eingliederungsmanagement (BEM) bei Hugo Boss zeigte: Zu viele Informationen gehen an den Schnittstellen verloren, viele Prozesse sind ineffizient. Grund genug für HR, im engen Schulterschluss mit dem Health Management, dem Betriebsrat und der Schwerbehindertenvertretung das BEM im Sinne einer zukunftsorientierten Personal­strategie neu auszurichten.

Die Hugo Boss AG ist als deutsches Fashion- und Lifestyle-Unternehmen im Premiumsegment weltweit für seine Damen- und Herrenbekleidung sowie Schuhe und Accessoires bekannt. Das Unternehmen mit Sitz in Metzingen beschäftigt in Deutschland über 4.000 Mitarbeitende, wobei eine große Anzahl der Mitarbeitenden an Distributionsstandorten und Einzelhandel Stores beschäftigt ist. Das Unternehmen Hugo Boss verzeichnet einen jährlichen Umsatz von mehreren Milliarden Euro.

BEM in der Praxis: Beispiel Hugo Boss

Als verantwortungsvoller Arbeitgeber nimmt Hugo Boss die betriebliche Gesundheit und Sicherheit seiner Mitarbeitenden sehr ernst. Dazu gehören auch Betriebliche Eingliederungsmanagement-Prozesse, die im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements angeboten werden, wenn Beschäftigte länger als sechs Wochen arbeitsunfähig abwesend sind. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) dient dazu, Mitarbeitende bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder längeren Krankheitszeiten wieder erfolgreich in das Arbeitsleben zu integrieren. Dabei stehen die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der betroffenen Personen im Fokus. Geregelt ist das BEM seit Mai 2004 im Sozialgesetzbuch (§ 167 Abs. 2 SGB IX). Das Ziel des BEM ist dort klar definiert: Arbeitsunfähigkeitszeiten möglichst überwinden, neuen Arbeitsunfähigkeitszeiten vorbeugen und den Arbeitsplatz erhalten. 

Doch trotz eines gut geführten BEM-Prozesses bei der Hugo Boss AG verspürten die für das Eingliederungsmanagement  Verantwortlichen bei den Mitarbeitenden eine gewisse Zurückhaltung, mitunter auch im Einzelfall Sorgen, an einem BEM-Gespräch teilzunehmen. Das ist kein Einzelfall: In vielen Unternehmen in Deutschland besteht auch heute noch eine überwiegend ablehnende Haltung der Beschäftigten gegenüber dem BEM. Zu groß ist die Sorge, sich durch Preisgabe persönlicher Informationen wie beispielsweise  gesundheitlicher Einschränkungen gegebenenfalls angreifbar zu machen und dadurch vielleicht sogar den Arbeitsplatz zu verlieren.

Das BEM bei Hugo Boss zeigte darüber hinaus noch eine weitere Schwäche, die ebenfalls in der Praxis häufiger anzutreffen ist:  Der Prozess war zwar strukturell gut gegliedert, jedoch wurde der komplette Prozess in Paper-Pen-Umsetzung händisch geführt – ein ressourcen- und zeitaufwendiges Vorgehen, das zur Konsequenz hatte, dass die BEM-Fälle nicht in Echtzeit visualisiert wurden, dementsprechend auch nicht zeitnah in BEM-Gespräche überführt werden konnten. Weiterhin wurden wichtige externen Schnittstellen nur sporadisch und nicht standardisiert in laufende BEM-Verfahren eingebunden. 

Optimierung des BEM-Prozesses mit externer Unterstützung

Aus diesen Gründen hatte Hugo Boss im Jahr 2020 beschlossen, den betrieblichen Eingliederungsprozess (BEM) nochmals genauer zu betrachten und mögliche Verbesserungen zu identifizieren. Zur Analyse des bestehenden Prozesses und der Erarbeitung von Optimierungsideen holte das Unternehmen externe Unterstützung durch die BEM-Expertin und Rechtsanwältin Anja Kayser. Im Rahmen dieser ersten Betrachtung wurden sowohl Informationsverluste zwischen den Schnittstellen als auch Potenziale zur Effizienzsteigerung identifiziert. Schnell war klar: Eine Optimierung des BEM-Prozesses war nicht im Alleingang zu schaffen, sondern nur durch die Einbindung aller internen Beteiligten. Der Bereich HR-Operations, der Betriebsrat, die Schwerbehindertenvertretung und das innerbetriebliche Health Management wurden zu entscheidenden wegweisenden Partnern auf diesem neuen Weg. 

Gemeinsame Qualifizierung als Grundstein 

Der Grundstein für die Neuausrichtung wurde mit einer gemeinsamen Qualifizierungsmaßnahme im Jahr 2021 mit allen Beteiligten gelegt. Mit Case Management Übungen anhand von BEM-Verfahren aus der Fallberatungspraxis der Beraterin wurde nochmals deutlich, dass BEM viel mehr ist als nur eine gesetzliche Vorschrift zur Sicherung der Arbeitsplätze: BEM ist Retention im Sinne einer zukunftsorientierten Personalstrategie. 

Nach Erreichen eines einheitlichen Wissensstands, eines gemeinsamen Verständnisses aller BEM-Beteiligten sowie einer neu definierten Vision wurde der nächste wichtige Schritt ermöglicht: Die von Grund auf neue Gestaltung und Optimierung des bestehenden BEM-Prozesses. Hierbei war es entscheidend, dass alle BEM-Beteiligten bereit waren, den Prozess komplett neu zu denken, um gemeinsam die Vision zum Leben zu bringen. Dabei half die Leitfrage: "Wie nutzen wir BEM gewinn­bringend und nachhaltig für die Mitarbeitenden und wie können wir den Prozess in Einklang mit den betrieblichen Interessen bringen?"

In den Workshops kamen auch viele "Klassiker" aus dem Alltag der BEM-Praktiker auf den Tisch, beispielsweise: Welche Daten erhält der Betriebsrat? Wie und wann sind die Führungskräfte einzubinden? Welche Dokumente nutzen wir im BEM-Verfahren? Wie finden wir die Balance zwischen juristisch korrekt formuliertem Einladungsschreiben und einem Einladungsschreiben, das auch im besten Wortsinn zum BEM-Gespräch "einlädt" und Vertrauen bei den Mitarbeitenden schafft? Welche Leistungen für die Teilhabe am Arbeitsleben und welche begleitenden Hilfen im Arbeitsleben können überhaupt beantragt werden? Kann das BEM auch einseitig vom Arbeitgeber beendet werden?

Jochen Eckhold, Senior Vice President Global HR bei Hugo Boss, bezeichnet in der Rückschau den Workshop als entscheidenden Meilenstein in der Weiterentwicklung des Eingliederungsmanagements des Unternehmens: "Durch die intensive Zusammenarbeit konnten wir konstruktiv Ideen austauschen, um innovative Lösungsansätze zu entwickeln und den BEM-Prozess nachhaltig zu optimieren. Das Ergebnis ist ein Gesundheitsmanagement, bei dem das Wohl unserer Mitarbeitenden im Mittelpunkt steht."

Vier Themenfelder bestimmen das neue BEM 

Durch die intensive Zusammenarbeit der Schnittstellen und mithilfe der Workshops hat Hugo Boss im Jahr 2022 einen neuen Prozess zum betriebliches Eingliederungsmanagement eingeführt und diesen seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Folgende vier Themenfelder konnten dabei identifiziert werden: 

1. Betriebsvereinbarung: 
Eine der wichtigsten Maßnahmen war der Abschluss einer Betriebsvereinbarung, die klare Verantwortlichkeiten und eine strukturierte Gliederung für verschiedene Fallkonstellationen festlegt. Bei Hugo Boss werden die BEM-Gespräche seit 2022 gemeinsam von dem zuständigen HR-Manager und einem Betriebsratsmitglied geführt. Dies ermöglicht eine effektive Zusammenarbeit, schafft eine vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre für die Mitarbeitenden und führt zu einer schnelleren Bearbeitung der Fälle. Zudem sorgt die klare Verantwortlichkeitsregelung für bessere Transparenz und Nachvollziehbarkeit des Prozesses.

2. Entwicklungsteam: 
Um den BEM-Prozess bei Hugo Boss auch nach der Neuausrichtung nachhaltig zu optimieren, wurde ein BEM-Entwicklungsteam gegründet. Dieses Team setzt sich aus verschiedenen internen Schnittstellen und Experten zusammen und hat die Aufgabe, sich regelmäßig auszutauschen, aktuelle Herausforderungen im BEM-Prozess zu identifizieren und Maßnahmen zu beschließen. Die Gründung dieses Teams stellt eine effektive Zusammenarbeit sicher, die darauf ausgerichtet ist, den BEM-Prozess kontinuierlich zu optimieren und auf Veränderungen und Bedürfnisse schnell reagieren zu können.

3. BEM-Managementtool: 
Um stets eine Übersicht über laufende und abgeschlossene BEM-Fälle zu haben, wurde ein BEM-Tool implementiert, das allen Prozessbeteiligten zur Verfügung steht und den gesamten BEM-Prozess digital und datenschutzkonform abbildet. Dieses Tool ermöglicht es den Beteiligten, den Eingliederungsprozess in Echtzeit zu verfolgen. Durch die Live-Reporting-Funktion werden neue BEM-Fälle zeitnah identifiziert, entsprechende BEM-Verfahren können umgehend eingeleitet werden. Das digitale Tool erleichtert zudem die Kommunikation und den Austausch zwischen den Beteiligten sowie die Dokumentation der Gespräche, was die Effizienz des gesamten Prozesses steigert. Für Führungskräfte wurde ein Manager-Self-Service Dashboard eingerichtet, sodass Führungskräfte ebenfalls immer den aktuellen Status des BEM-Prozesses einsehen können. 

4. Digitalisierung der Dokumente: 
Um die administrative Komplexität und den manuellen Aufwand weitestgehend zu reduzieren, wurden alle BEM-Dokumente in ein Dokumentenmanagement-Tool überführt. Dieses ermöglicht es unter anderem, rechtlich korrekt formuliert BEM-Einladungsschreiben und Begleitdokumente zu erstellen und nach datenschutzrechtlichen Vorgaben in der digitalen Personalakte automatisch zu speichern. Dadurch werden alle erforderlichen Informationen und Dokumente übersichtlich und leicht zugänglich abgelegt. 

Durch die vielseitig getroffenen Maßnahmen und Optimierungen konnten bereits sichtbare Erfolge erzielt werden. Die vorrangige Errungenschaft ist, dass inzwischen einige Mitarbeitende in einem vertrauensvollen und professionell begleiteten BEM-Prozess nach oder während einer Erkrankung unterstützt und ins Unternehmen eingegliedert wurden. Diese Mitarbeitenden agieren unter anderem nun proaktiv als Vorbilder und BEM-Fürsprecher für ihre Kolleginnen und Kollegen.

BEM: Kennzahlen sollen der zukünftigen Erfolgsmessung dienen 

Wie geht es weiter? Ein zentraler Fokus im Jahr 2024 wird auf der Erfolgsmessung der einzelnen BEM-Verfahren liegen. Das BEM-Entwicklungsteam wird verschiedene Kennzahlen und Indikatoren definieren, um die Effektivität und Effizienz einzelner Maßnahmen objektiv zu messen. Dadurch sollen Erkenntnisse gewonnen werden, welche vereinbarten Maßnahmen im BEM besonders wirksam sind und welche gegebenenfalls weiter verbessert werden können.

Zum anderen soll die Erfolgsmessung auch als Grundlage für die Kommunikation mit den Mitarbeitenden sowie den internen Schnittstellen dienen. Es können nachhaltige Erfolge und Fortschritte transparent dargestellt werden, was das Vertrauen in den Eingliederungsprozess weiter stärkt. 


Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 7/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


Zu den Autoren:

Annika Alber ist HR-Managerin bei Hugo Boss und leitete gemeinsam mit Dietmar Rücker das Projekt der BEM-Neuausrichtung bei Hugo Boss.

Dietmar Rücker ist Betriebsrat bei Hugo Boss und war federführend in die Neuausrichtung des BEM eingebunden.

Anja Kayser ist Rechtsanwältin und Inhaberin von Kayser Personalkonzepte. Als BEM-Expertin hat sie die Neuausrichtung des BEM bei Hugo Boss begleitet.