Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 920
Regelungen zur Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen stellen wohl die häufigste Form von Auswahlrichtlinien. Dabei ist die Gewichtung bzw. das Verhältnis der einzelnen Sozialdaten zueinander nicht vorgegeben; die Betriebsparteien haben insoweit einen Wertungsspielraum. Dabei ist von den vier gesetzlich in § 1 Abs. 3 KSchG vorgegebenen Sozialauswahlkriterien auszugehen. Ist in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG festgelegt, wie die sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, kann diese Gewichtung nach § 1 Abs. 4 KSchG nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden. Sie ist grob fehlerhaft, wenn sie jede Ausgewogenheit vermissen lässt und einzelne Sozialdaten überhaupt nicht, eindeutig unzureichend oder mit eindeutig überhöhter Bedeutung berücksichtigt wurden. Eine Auswahlrichtlinie, die ein Sozialkriterium, das bei allen Arbeitnehmern vorliegen kann (Alter, Betriebszugehörigkeit), nicht oder so gering bewertet, dass es in fast allen denkbaren Fällen nicht mehr den Ausschlag geben kann, erfüllt die gesetzlichen Vorgaben des § 1 Abs. 4 KSchG nicht und ist deshalb auch nicht geeignet, den Arbeitgeber durch die Anwendung des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs der groben Fehlerhaftigkeit zu privilegieren. Keinem der im Gesetz genannten vier Kriterien kommt kraft Gesetzes die größte Bedeutung zu, aber der Arbeitgeber kann im Rahmen seines Ermessensspielraums die Sozialdaten Betriebszugehörigkeit und Lebensalter besonderes gewichten. In einem Ausnahmefall hat das BAG auch die vorrangige Berücksichtigung von Unterhaltspflichten gebilligt.
Allerdings führt die fehlerhafte Bewertung eines Sozialkriteriums nicht zu einer Änderung des Prüfungsmaßstabes und Beschränkung der Prüfung auf § 1 Abs. 3 KSchG, wenn die Fehlerhaftigkeit für die konkrete Sozialauswahl unerheblich ist, denn Fehler in Auswahlrichtlinien können nur dann Auswirkungen haben, wenn der Arbeitgeber die Auswahlrichtlinie insoweit bei der konkreten Sozialauswahl überhaupt anwendet. Die Berücksichtigung des Lebensalters als eines von mehreren Kriterien bei der Sozialauswahl ist trotz des Verbots der Altersdiskriminierung gem. §§ 1, 2 Abs. 1 Nr. 2 AGG im Grundsatz nicht zu beanstanden. Dementsprechend ist die lineare Berücksichtigung des Lebensalters bei der Sozialauswahl im Rahmen einer Auswahlrichtlinie als eines von mehreren Auswahlkriterien grundsätzlich mit dem Verbot der Altersdiskriminierung zu vereinbaren. Auch Regelungen in der Auswahlrichtlinie zur Altersgruppenbildung zur Sicherung der Altersstruktur im Betrieb (§ 1 Abs. 3 S. 2 KSchG) ist unter der Geltung des AGG grundsätzlich zulässig, und dies kann nach § 10 S. 1, 2 AGG durch legitime Ziele gerechtfertigt sein; davon ist regelmäßig auszugehen, wenn die Altersgruppenbildung bei Massenkündigungen aufgrund einer Betriebsänderung erfolgt. Insbesondere bei einer Auswahlrichtlinie, die für eine Mehrzahl von Betrieben abgeschlossen wird, sind allerdings an die Überlegungen zur Sicherung der Altersstruktur "im Betrieb" besondere Anforderungen zu stellen, denn der Gesetzeswortlaut stellt eben nicht auf das Unternehmen als Bezugspunkt ab, sondern auf die Sicherung der Altersstruktur im Betrieb.
Rz. 921
Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG, die nach § 1 Abs. 4 KSchG zu einer eingeschränkten Sozialauswahlprüfung führen, können nicht im Vorfeld betriebsbedingter Kündigungen die Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer festlegen oder die Herausnahme einzelner Arbeitnehmer aus der Sozialauswahl aus berechtigtem betrieblichem Interesse regeln, soweit es nicht um Altersgruppenbildung geht. Zwar dürfte eine solche Auswahlrichtlinie nach § 95 BetrVG wirksam sein, ihr kommt aber nicht die privilegierende Wirkung des § 1 Abs. 4 KSchG zu. Insbesondere können Auswahlrichtlinien nach § 95 BetrVG i.V.m. § 1 Abs. 4 KSchG die gesetzlichen Anforderungen an die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG nicht verdrängen. Im Rahmen eines Beurteilungsspielraums können zwar Erfahrungen der Betriebspartner hinsichtlich der Vergleichbarkeit der Arbeitnehmer bestimmter Arbeitsplätze einfließen, es können aber nicht von vornherein Arbeitnehmer bestimmter Abteilungen oder Arbeitsgruppen ohne ausreichende sachliche Kriterien als nicht vergleichbar eingestuft werden.