Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 980
Äußerst umstritten ist, ob der Betriebsrat zusätzlich zu den individualrechtlichen Konsequenzen nach § 113 Abs. 3 BetrVG die Möglichkeit hat, im Wege einer einstweiligen Verfügung im Beschlussverfahren die Unterlassung der Betriebsänderung bis zum Abschluss des Verfahrens nach §§ 111, 112 BetrVG zu verlangen.
Rz. 981
Das Bundesarbeitsgericht hat sich zu dieser Frage im Rahmen eines Kostenerstattungsverfahrens dahingehend geäußert, dass ein Interessenausgleich keinen Anspruch des Betriebsrats auf dessen Einhaltung erzeugt, sondern es sich lediglich um eine Naturalobligation handelt. Deshalb kann der Betriebsrat nach Auffassung des BAG die Einhaltung des Interessenausgleichs gegenüber dem Arbeitgeber auch nicht erzwingen. Ihm steht nämlich kein Verfügungsanspruch zur Sicherung eines solchen – nicht bestehenden – Rechtes zu. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des allgemeinen Unterlassungsanspruchs des Betriebsrats hat das BAG entschieden, dass nicht jede Verletzung von Rechten des Betriebsrats ohne weiteres zu einem Unterlassungsanspruch führt. Vielmehr kommt es auf die einzelnen Mitbestimmungstatbestände, deren konkrete gesetzliche Ausgestaltung und die Art der Rechtsverletzung an. Deshalb sei es auch nicht widersprüchlich, einen Unterlassungsanspruch bei Verstößen gegen § 87 BetrVG zu bejahen, ihn aber im Zusammenhang mit der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu verneinen. In eine ähnliche Richtung geht das BAG, wenn es feststellt, dass ein allgemeiner Unterlassungsanspruch des Betriebsrats allenfalls in den Fällen besteht, in denen im Rahmen der "Mitbestimmungstatbestände jegliches Handeln des Arbeitgebers der Zustimmung des Betriebsrats bedarf". Dies ist bei §§ 111, 112 BetrVG gerade nicht der Fall, die nur einen Anspruch auf Unterrichtung und Beratung über eine Betriebsänderung begründen. In seiner Entscheidung vom 8.3.2022 ließ das BAG zuletzt ausdrücklich offen, ob zur Gewährleistung der Beteiligungsrechte des Betriebsrats bei Betriebsänderungen ein Unterlassungsanspruch – vergleichbar demjenigen aus § 87 BetrVG – anzuerkennen sei, weil es – selbst wenn es einen solchen Anspruch gäbe – in dem vorliegenden Fall an einer Wiederholungsgefahr fehlte.
Rz. 982
Die Landesarbeitsgerichte – die im einstweiligen Verfügungsverfahren wegen §§ 85 Abs. 2, 92 Abs. 1 S. 3 ArbGG letztinstanzlich entscheiden – sind uneinheitlich. Es kommt deshalb für den Unternehmer sehr darauf an, in welchem Gerichtsbezirk sich der Betrieb befindet, in dem die Betriebsänderung geplant ist. Ein Teil der Landesarbeitsgerichte bejaht den Unterlassungsanspruch des Betriebsrats (üblicherweise mit dem einschränkenden Hinweis, dass der Unterlassungsanspruch allein der Sicherung des Verhandlungsanspruchs dient und hierauf beschränkt ist und gerade nicht die Untersagung der unternehmerische Entscheidung selbst zum Inhalt haben darf), der andere Teil lehnt den Unterlassungsanspruch ab. Es war eine Zeit lang die Tendenz festzustellen, dass sich immer mehr Gerichte der Auffassung anschließen, dass ein Unterlassungsanspruch des Betriebsrats besteht. Begründet wurde dies vor allem damit, dass seit 23.3.2005 die Umsetzungsfrist der EU-Richtlinie 2002/14/EG verstrichen ist, die eine effektive Konsultation der Arbeitnehmervertreter vor grundlegenden Änderungen der Beschäftigungssituation verlangt. Der Unterlassungsanspruch sollte deshalb im Wege der richtlinienkonformen Auslegung anerkannt werden müssen. Andererseits haben trotz dieser europarechtlichen Argumente Gerichte ihre bisherige Rechtsprechung bestätigt und einen Unterlassungsanspruch nach wie vor abgelehnt. Eine "Trendwende" ist deshalb nicht erkennbar.
Rz. 983
Praxishinweis
Bezieht sich die Betriebsänderung auf einen Betrieb, der sich in einem der Gerichtsbezirke befindet, in denen dem Antrag des Betriebsrats auf Erlass einer Unterlassungsverfügung stattgegeben werden kann (also v. a. Berlin, Frankfurt, Hamburg, Hamm), ist es ratsam, zumindest eine Schutzschrift zu hinterlegen (vgl. § 3 Rdn 642 ff.).