Dr. Gero Dietrich, Dr. Angela Emmert
(1) Auswirkungen eines fehlenden BEM auf die Zulässigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung
Rz. 517
Nach ständiger Rechtsprechung des BAG ist die Zulässigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung anhand von Kriterien zu prüfen:
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Negative Gesundheitsprognose |
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erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher und wirtschaftlicher Interessen und |
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Interessenabwägung/Verhältnismäßigkeit |
Rz. 518
Mit Inkrafttreten des § 167 Abs. 2 SGB IX sind vereinzelt Einzelstimmen laut geworden, wonach eine krankheitsbedingte Kündigung voraussetze, dass zuvor ein BEM angeboten und bei Zustimmung des Betroffenen auch durchgeführt wurde. Nach überwiegender Auffassung und nunmehr ständiger BAG-Rechtsprechung ist aber das dreistufige Prüfungsschema bei einer krankheitsbedingten Kündigung beizubehalten, jedoch im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen, ob ein BEM durchgeführt wurde. Wurde ein BEM nicht durchgeführt, könnte die Kündigung unverhältnismäßig sein. Nach der Rechtsprechung reicht es aber aus, dass der Arbeitgeber die in § 167 Abs. 2 SGB IX vorgesehenen Schritte und Maßnahmen prüft und durchführt, der Arbeitgeber muss dies nicht unter dem Etikett eines BEM tun. Durch die zusätzliche Einziehung einer Kündigungsvoraussetzung hat sich jedoch das BEM bzw. die nicht – ordnungsgemäße – Durchführung zu einer weiteren Hürde einer krankheitsbedingten Kündigung entwickelt und verschärft. Es steht zu vermuten, dass die Rechtsprechung die Anforderungen durch den Einzug von gesetzlichen Regelungen, die außerhalb der gesetzlichen Konzeption des Kündigungsschutzes stehen, in den Kündigungsschutz weiter erhöht und damit auch Rechtsunsicherheiten begründet.
Rz. 519
Richtigerweise ist die Frage, ob ein BEM durchgeführt wurde, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Hat ein BEM überhaupt nicht stattgefunden, ist zu beurteilen, ob ein BEM ein milderes Mittel als die Kündigung zur Beseitigung der Störung gewesen wäre. Hier muss dann berücksichtigt werden, ob und welche Maßnahmen mithilfe eines BEM hätten getroffen werden können. Erscheint ein BEM von vornherein aussichtslos, braucht der Arbeitgeber dieses Verfahren auch nicht durchzuführen, weil dann das BEM kein geeignetes Mittel zur Behebung der Störung ist. Eine qualitative Änderung der Anforderungen für die Zulässigkeit einer krankheitsbedingten Kündigung dürfte damit nicht vorliegen, da auch schon bisher im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung geklärt werden musste, ob und inwieweit ein leidensgerechter Arbeitsplatz oder ein sonstiges Hilfsmittel zur Vermeidung der Kündigung in Betracht kommt. Diese Maßstäbe dürften auch dann gelten, wenn ein BEM zwar durchgeführt wurde, der gekündigte Mitarbeiter aber vortragen würde, dass das Verfahren mangelhaft gewesen sei. Auch hier steht letztlich die Verhältnismäßigkeit der Kündigung im Streit.
(2) Darlegungs- und Beweislast im Kündigungsschutzprozess
Rz. 520
Im Falle der Einleitung eines Kündigungsschutzprozesses hat die dem Arbeitgeber gesetzlich auferlegte Pflicht zur Durchführung eines BEM Auswirkungen auf die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast.
Rz. 521
Wurde ein BEM zwar ordnungsgemäß durchgeführt, hat es aber zu einem negativen Ergebnis geführt, genügt der Arbeitgeber seiner Darlegungslast, wenn er diesen Umstand darlegt und vorträgt, dass es keine anderweitigen Beschäftigungsmöglichkeiten gebe. In diesem Fall sei es dann Sache des Arbeitnehmers, im Einzelnen darzulegen und ggf. zu beweisen, dass es entgegen dem Ergebnis des BEM weitere Alternativen gebe, die entweder dort trotz ihrer Erwähnung nicht behandelt worden seien oder sich erst nach dessen Abschluss ergeben hätten. Der Arbeitnehmer muss sämtliche Alternativbeschäftigungsmöglichkeiten zum Zeitpunkt der BEM-Durchführung einbringen. Der Verweis auf nicht behandelte Alternativen als Folge eines ordnungsgemäß durchgeführten BEM ist grundsätzlich ausgeschlossen, vielmehr muss der Arbeitnehmer diese in das BEM einbringen
Rz. 522
Hat der Arbeitgeber entgegen der ihm gesetzlich auferlegten Pflicht kein BEM durchgeführt, darf er sich nach der Auffassung des BAG hierdurch keine darlegungs- und beweisrechtlichen Vorteile verschaffen. Er könne sich dann nicht darauf berufen, er kenne keine alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten und es gebe keine leidensgerechten Arbeitsplätze. Vielmehr habe der Arbeitgeber von sich aus denkbare oder von dem Arbeitnehmer (außergerichtlich) bereits genannte Alternativen zu würdigen und im Einzelnen darzulegen, aus welchen Gründen sowohl eine Anpassung des bisherigen Arbeitsplatzes als auch die Beschäftigung auf einem anderen – leidensgerechten – Arbeitsplatz ausscheiden. Erst dann müsse der Arbeitnehmer sich hierauf substantiiert einlassen und darlegen, wie er sich selbst eine leidensgerechte Beschäftigung vorstelle...