Dr. Detlef Grimm, Dr. Stefan Freh
Rz. 876
§ 103 BetrVG bezweckt in erster Linie die Sicherung der Funktionsfähigkeit der betriebsverfassungsrechtlichen Organe und die Kontinuität der Amtsführung durch personelle Konstanz und den Schutz der Betriebsverfassungsorgane, der Wahlbewerber und Mitglieder des Wahlvorstandes vor willkürlichen außerordentlichen Kündigungen, auch vor solchen mit sozialer Auslauffrist. Die Regelung soll den Arbeitgeber dazu anhalten, bei Amtspflichtverletzungen des BR den dafür vorgesehenen Ausschluss aus dem BR gemäß § 23 Abs. 1 BetrVG anstelle der außerordentlichen Kündigung des BR-Mitgliedes zu wählen. Nur Verstöße, die eine Verletzung von Arbeitsvertragspflichten – gegebenenfalls auch gleichzeitig mit einer Amtspflichtverletzung (sog. Simultantheorie) – darstellen, können eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB begründen und damit einen Zustimmungsantrag nach § 103 BetrVG rechtfertigen. Verstößt ein Arbeitnehmer gegen seine Pflichten aus einem Aufsichtsratsmandat, kommen zunächst die Sanktionen des Gesellschaftsrechts, vor allem die Abberufung aus dem Aufsichtsrat gemäß § 103 Abs. 3 AktG, in Betracht; eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist nur zulässig, wenn zugleich eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung vorliegt und die Auswirkungen auf das Arbeitsverhältnis so schwer sind, dass jede weitere Beschäftigung des Arbeitnehmers dem Arbeitgeber unzumutbar erscheint.
Rz. 877
Liegt ein wichtiger Grund für die Kündigung vor, ist der BR zur Zustimmung verpflichtet, ohne dass er einen Ermessensspielraum hat. Auf Antrag des Arbeitgebers ersetzt das Arbeitsgericht die verweigerte Zustimmung, "wenn die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung aller Umstände gerechtfertigt ist", § 103 Abs. 2 BetrVG. Dabei prüft das Gericht das Vorliegen eines wichtigen Grundes i.S.v. § 626 BGB und die individuellen Interessen des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers sowie die möglichen kollektiven Interessen der Belegschaft.
Rz. 878
Die tendenzbezogene Kündigung eines BR-Mitgliedes, das Tendenzträger ist, bedarf wegen § 118 BetrVG nicht der Zustimmung des BR; stattdessen ist nur eine Anhörung nach § 102 BetrVG erforderlich.
Rz. 879
Der durch das Zustimmungserfordernis des § 103 BetrVG geschützte Personenkreis ergibt sich aus § 15 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG; zeitlich gilt der Schutz während der Amtszeit. Die bisher umstrittene Frage, ob für den Geltungszeitraum die Abgabe oder der Zugang der Kündigung maßgeblich ist, hat das BAG jüngst zugunsten der letztgenannten Auffassung entschieden. Dies entspreche dem Sinn und Zweck des § 103 BetrVG, den Schutz der Arbeit des BR vor Eingriffen des Arbeitgebers zu gewährleisten, denn ein Eingriff liege erst ab Zugang der Kündigung vor. Die Frage spielt maßgeblich bei Ersatzmitgliedern eine Rolle, die wegen einer zeitweiligen Verhinderung eines regulären Betriebsratsmitglieds gem. § 25 Abs. 1 S. 2 BetrVG tätig waren und denen der besondere Kündigungsschutz gem. § 15 Abs. 1 S. 1 KSchG i.V.m. § 103 BetrVG gleichermaßen zuteil wird. Allerdings besteht das Zustimmungserfordernis i.S.v. § 103 BetrVG nur, wenn das Ersatzmitglied entweder endgültig für ein ausgeschiedenes Mitglied nachgerückt ist, oder wenn und solange es ein zeitweilig verhindertes Mitglied vertritt, § 25 Abs. 1 S. 1 und S. 2 BetrVG. Ersatzmitglieder, die nach Beendigung der Vertretungszeit wieder aus dem BR ausgeschieden sind, haben hingegen nur noch den nachwirkenden Kündigungsschutz gem. § 15 Abs. 1 S. 2 KSchG. Der Sonderkündigungsschutz für Ersatzmitglieder beginnt in dem Zeitpunkt, zu dem das ordentliche Mitglied erstmals verhindert ist; im Falle einer Betriebsratssitzung bereits ab der Ladung, frühestens jedoch drei Tage vor dem eigentlichen Vertretungsfall. Damit soll die zur Wahrnehmung des Amtes erforderliche Vorbereitungszeit miteinbezogen, gleichzeitig aber verhindert werden, dass der Schutzbereich willkürlich ausgedehnt wird. Der Kündigungsschutz entfällt auch dann nicht, wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass in Wahrheit kein Vertretungsfall vorgelegen hat; etwas anderes gilt, wenn der Vertretungsfall nur durch kollusive Absprachen herbeigeführt wurde oder es sich dem Ersatzmitglied hätte aufdrängen müssen, dass kein Vertretungsfall vorlag.
Rz. 880
Bei der Wahl des ersten BR gilt der Kündigungsschutz bereits für die Mitglieder des Wahlvorstandes und die Wahlbewerber. Will der Arbeitgeber ihnen kündigen, muss er die Erteilung der Zustimmung direkt beim Arbeitsgericht beantragen. Entsprechendes gilt bei der Kündigung des letzten Betriebsratsmitglieds.
Rz. 881
Sachlich gilt der Kündigungsschutz des § 103 BetrVG i.V.m. § 15 KSchG auch für Massenänderungskündigungen. Dies wird zwar in der Literatur unter Hinweis auf die Gleichbehandlungsverpflichtung des § 78 BetrVG kritisiert, das BAG hat aber eine teleologische Reduktion des § 15 Abs. 1 KSchG ausdrücklich abgelehnt. § 15 Abs. 1 KSchG sei vielmehr...