Rz. 34

Um die übernommene Rechtsbetreuung (Rechtsberatung und/oder -vertretung) fehlerfrei vornehmen zu können, hat der Rechtsberater (Rechtsanwalt, Rechtsbeistand, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) zunächst den maßgeblichen Sachverhalt festzustellen.[208] Nur dann hat er eine zuverlässige Grundlage für sein weiteres Vorgehen.[209] Diese Grundpflicht des Rechtsberaters steht in Wechselwirkung mit der Informationspflicht des Auftraggebers (vgl. Rdn 40).[210] Die Pflicht des Rechtsanwalts zur vollständigen Beratung setzt also voraus, dass er zunächst durch Befragung seines Auftraggebers die Punkte klärt, auf die es für die rechtliche Beurteilung ankommen kann, und dabei auch die in der Sache liegenden Zweifel, die er als Rechtskundiger erkennen kann und muss, während sie auch einem geschäftsgewandten Rechtsunkundigen verborgen bleiben können, bedenkt und erörtert.[211] Hat der Rechtsanwalt Zweifel an der Vollständigkeit des ihm unterbereiteten Sachverhalts, kann ihn auch die Pflicht treffen, durch richtige Fragen an seinen Auftraggeber die tatsächlichen Grundlagen ans Licht zu bringen, d.h. die Information, die er für eine richtige und umfassende Beratung braucht.[212] Dazu muss der Anwalt auch die ihm vorgelegten Unterlagen genau überprüfen.[213] Über die vom Mandanten zu erfahrenden Umstände hinaus muss der Anwalt grds. nur dann Nachforschungen anstellen oder veranlassen, wenn er Anhaltspunkte dafür hat, dass solche für das Begehren des Mandanten wesentlichen Umstände vorliegen könnten, ohne dass sie dem Mandanten bekannt sind. Das gilt etwa in den Fällen, in denen das Gesetz oder die Rechtsprechung Ansprüche des Mandanten von Umständen abhängig macht, die dem Mandanten gerade verheimlicht worden sind, obwohl sie ihm hätten offenbart werden müssen, z.B. die Aufklärung über Rückvergütungen oder Kick-Back-Zahlungen an die Fonds oder andere Anlageprodukte vermittelnde Bank.[214] Ergibt sich aus den Umständen, etwa der veröffentlichten Rechtsprechung, dass solche Praktiken bei der möglichen Anspruchsgegnerin des Mandanten üblich waren, und hängt davon der Anspruch des Mandanten ab, muss der Anwalt hierzu weitere Sachaufklärung veranlassen oder selbst vornehmen.

Insb. in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten muss der Anwalt unverzüglich klären, ob Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge bestehen, die die Rechte des Mandanten regeln oder gar Ausschlussfristen vorsehen.[215]

Entsprechende Sachverhaltsaufklärungspflichten bestehen für den Steuerberater, bei dem es je nach Inhalt des Mandats auf völlig andere Tatsachen ankommen kann, etwa zusätzlich auf Familienstand oder Güterstand.[216]

Bei unzureichenden Informationen des Mandanten muss der Berater diesen auf negative Konsequenzen hinweisen, die sich z.B. bei Verletzung der Prozessförderungspflicht ergeben.[217] Ist der Sachverhalt für eine mündliche Darstellung zu komplex, kann der Anwalt vom Mandanten eine schriftliche Darstellung und Zusammenfassung des Zahlenwerks verlangen.[218]

Wird dem Rechtsanwalt nur ein beschränktes Mandat übertragen, beschränkt sich die Verpflichtung des Anwalts, den Sachverhalt umfassend und erschöpfend aufzuklären, auf diese eingeschränkte Angelegenheit.[219]

[208] Dazu eingehend Popp, Die Verpflichtung des Anwalts zur Aufklärung des Sachverhalts, 2001.
[209] Vgl. Vollkommer/Greger/Heinemann, § 10 Rn 3.
[210] BGH, 8.10.1981 – III ZR 190/79, NJW 1982, 437; Borgmann, in: FS Ostler, S. 1 ff.
[211] BGH, 21.11.1960 – III ZR 160/59, NJW 1961, 601, juris, Tz. 20.
[212] BGH, 21.11.1960 – III ZR 160/59, NJW 1961, 601, juris, Tz. 20; BGH, 14.2.2019 – IX ZR 181/17, NJW 2019, 1151, Tz. 12; OLG München, 23.12.2015 – 15 U 4569/14, juris, Tz. 15.
[213] BGH, 15.1.1985 – VI ZR 65/83, NJW 1985, 1154, juris, Tz. 13.
[214] Vgl. z.B. OLG München, 23.12.2015 – 15 U 4569/14, juris, Tz. 15 ff.
[215] Vgl. BGH, 29.3.1983 – VI ZR 172/81, ZIP 1983, 996; Fahrendorf, in: Fahrendorf/Mennemeyer, Rn 492.
[216] Vgl. z.B. Gräfe, in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Rn 143 ff.
[217] BGH, 8.10.1981 – III ZR 190/79, NJW 1982, 437.
[218] BGH, 15.10.2009 – IX ZR 232/08, JurionRS 2009, 24300.

a) Ziel des Mandanten

 

Rz. 35

Der Rechtsanwalt hat zunächst zu klären, welches Ziel der Auftraggeber in seiner Rechtsangelegenheit verfolgt, die Gegenstand des Anwaltsvertrages sein soll. Ist das Begehren unklar, so hat der Rechtsanwalt nachzufragen.[220]

Die Haftpflichtpraxis zeigt, dass es bereits bei dieser ersten und wichtigsten Frage zu Missverständnissen zwischen Mandant und Anwalt kommen kann, insb. deswegen, weil der i.d.R. rechtsunkundige Mandant keine klare und vollständige Vorstellung von seinen rechtlichen Möglichkeiten hat. Im Regressprozess macht der Mandant etwa geltend, er habe nach einem Betriebsübergang den neuen Arbeitgeber, nicht aber – wie geschehen – den früheren Arbeitgeber in Anspruch nehmen wollen, oder er habe eine Kündigungsschutzklage erheben, nicht aber – wie geschehen – nur eine höhere Abfindung aus einem Sozialplan anstreben wollen.

 

Rz. 36

Es ist Sac...

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