Rz. 80
Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist zu finden in den amtlichen Sammlungen der obersten Bundesgerichte, in – allgemeinen oder auf besondere Rechtsgebiete festgelegten – juristischen Zeitschriften, in Kommentaren, Lehrbüchern und elektronischen Datenbanken. Der Anwalt darf sich nicht damit begnügen, die mandatsbezogene Rechtsfrage nur anhand der amtlichen Entscheidungssammlung zu prüfen. Denn dort ist nur der geringste Teil der Entscheidungen veröffentlicht, nämlich diejenigen, die vom jeweiligen Senat als besonders bedeutend oder bahnbrechend angesehen werden. Eine Vielzahl, besser gesagt die große Mehrzahl der – wichtigen – Entscheidungen wird zwar mit Leitsatz zur Veröffentlichung vorgesehen, aber nicht in der amtlichen Sammlung. Deshalb muss sich der Anwalt auch über die einschlägigen Fachzeitschriften unterrichten. Welche Fachzeitschriften vom Anwalt zu lesen sind, hat der BGH bisher nicht entschieden. Es wird sich zunächst sicher um ein oder zwei Zeitschriften handeln, in denen die wichtigsten allgemeinen Rechtsentwicklungen verfolgt werden können, etwa die NJW. Ist der Rechtsanwalt spezialisiert, muss er aber auch Spezialzeitschriften regelmäßig lesen, etwa der Familienrechtler die FamRZ, der Wirtschaftsrechtler die ZIP oder die WM, der Insolvenzrechtler daneben auch die NZI oder die ZInsO, der Versicherungsrechtler die VersR. Wer, etwa wegen Inanspruchnahme von Elternzeit, längere Zeit nicht als Anwalt gearbeitet und sich deshalb nicht auf dem Laufenden gehalten hat, muss die Entwicklung der Rechtsprechung bei jedem einzelnen Mandat für die sich dort stellenden Fragen überprüfen. Die Erlangung der notwendigen Kenntnisse kann allein durch den Besuch einzelner Fortbildungsveranstaltungen, die i.d.R. einen begrenzten Themenkomplex oder aktuelle Entwicklungen betreffen, nicht gewährleistet werden.
Die Übernahme des Mandats verpflichtet auch den Steuerberater, sich die Kenntnis von der maßgeblichen höchstrichterlichen Rechtsprechung, auch über Fachzeitschriften, zu verschaffen. Welche Zeitschriften dies sind, hat der BGH bisher auch beim Steuerberater offengelassen. In Betracht kommen bei ihm v.a. das vom BMF herausgegebene Bundessteuerblatt und die von der Bundessteuerberaterkammer herausgegebene Zeitschrift "Deutsches Steuerrecht". Es muss sich auch hier um Zeitschriften handeln, welche die für die Beratungspraxis benötigten Informationen dank einer redaktionellen Aufarbeitung gebündelt auffinden lassen. Dazu gehört womöglich auch die FR (Finanzrundschau). Die Zeitschrift "Der Ertragsteuerberater" gehört dagegen nicht zur Pflichtlektüre eines Steuerberaters. Da der Berater nicht nur die höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern auch die aktuellen Entwicklungen in Gesetzgebung und Literatur zu verfolgen hat, kann von ihm nicht die Kenntnis jeder einzelnen Entscheidung des BFH erwartet werden. Ist ein Rechtsgebiet ersichtlich in der Entwicklung begriffen und sind weitere höchstrichterliche Entscheidungen zu erwarten, muss der Berater Fachzeitschriften in angemessener Zeit gezielt durchsehen.
Die Entscheidungssammlung BFH/NV muss der Steuerberater nach Ansicht des BGH nicht (vollständig) verfolgen. Ist eine – wenn auch sehr wichtige – Entscheidung nur dort und sonst nur in kaum zugänglichen anderen Quellen veröffentlicht, muss der Steuerberater die Entscheidung nicht kennen. Hinzuweisen ist aber darauf, dass wichtige Entscheidungen gelegentlich vom BFH – offenbar bewusst – "klein" gehalten werden. Sie sind dann nur in dieser Entscheidungssammlung zu finden. Auch wichtige, mit Leitsatz veröffentlichte Entscheidungen des BGH zur Steuerberaterhaftung werden immer wieder nur in BFH/NV veröffentlicht.
Auch den Jahresbericht des BFH muss der Steuerberater nach Ansicht des BGH nicht auswerten, wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass dieser in sehr übersichtlicher Form die beim BFH anhängigen Verfahren zu neuen Problemen zusammenfasst und deshalb für den Steuerberater von großem Interesse sein kann und zudem über das Internet leicht zugänglich ist.
Muss der Rechtsberater eine Entscheidung nach diesen Grundsätzen nicht kennen, wird sie ihm aber auf andere Weise, sei es nur zufällig oder gezielt, etwa durch ihm vom Mandanten vorgelegte Rundschreiben von dessen Berufsverbänden, die auf das konkrete Problem und die Entscheidung aufmerksam machen, bekannt, hat er sie selbstverständlich zugunsten des Mandanten zu berücksichtigen.
Wird dem Rechtsberater eine Entscheidung nachträglich zu einem Zeitpunkt bekannt, in dem ein Bescheid bereits erlassen oder ein Urteil ergangen ist, kann aber noch Rechtsmittel eingelegt oder wegen eines Vorbehalts Neufestsetzung beantragt werden, muss die neu gewonnene Erkenntnis für den Mandanten entsprechend genutzt werden.