Rz. 180
Der Auftraggeber muss eigenverantwortlich über Art und Weise einer gerichtlichen Rechtsverfolgung entscheiden können. Soweit er hierzu nicht in der Lage ist, muss der Rechtsanwalt ihn über die Notwendigkeit, Erfolgsaussicht und Gefahren eines Rechtsstreits ins Bild setzen. Für die dabei bestehenden Beratungs- und Aufklärungspflichten macht es keinen Unterschied, ob der Rechtsanwalt den Kläger oder Beklagten vertritt oder ob es um die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels geht.
Rz. 181
Bei der Prüfung der Aussichten eines beabsichtigten Prozesses muss der Rechtsanwalt v.a. den ihm vorgetragenen Sachverhalt darauf überprüfen, ob er geeignet ist, den von dem Auftraggeber erstrebten Erfolg zu begründen (vgl. Rdn 35). Auf rechtliche Bedenken gegen die Erfolgsaussichten einer Klage muss der Rechtsanwalt den Auftraggeber hinweisen. Dasselbe gilt hinsichtlich tatsächlicher Bedenken, denn maßgebend ist nicht der aus Sicht des Mandanten gegebene Sachverhalt, sondern derjenige, der unstreitig ist und, soweit ihn die Beweislast trifft, vom Mandanten auch bewiesen werden kann. Dabei ist die Unzulänglichkeit mancher Beweismittel, v.a. der Zeugenaussagen, zu berücksichtigen. Deren Aussageverhalten ist oft kaum vorherzusagen. Der Rechtsanwalt muss nicht nur das Vorhandensein, sondern auch das ungefähre, in etwa abschätzbare Ausmaß des Risikos eines zu erwartenden Rechtsstreits darlegen und erörtern. Eine unzureichende Beurteilung der Prozessaussicht, die allgemein anerkannte methodische Regeln missachtet, geht zulasten des Rechtsanwalts.
Der Rechtsanwalt ist auch dann zur Aufklärung über die fehlenden Erfolgsaussichten eines Prozesses (oder Rechtsmittels) verpflichtet, wenn der Mandant zu erkennen gibt, dass ihn diese wegen bereits erteilter Deckungszusage seine Rechtsschutzversicherung nicht weiter interessierten. Denn ein Anspruch auf Rechtsschutz durch die Versicherung besteht gem. § 125 VVG bei aussichtsloser und damit nicht erforderlicher Rechtsverfolgung nicht, sodass der Mandant dann auf eigene Kosten prozessieren müsste. Das kann zu Regressforderungen der Versicherung führen. Ist Deckungszusage für die Klage noch nicht erteilt, muss der Anwalt auch von einer Deckungsanfrage für die Klage abraten. Besteht nur geringe Erfolgsaussicht, muss dies ggü. dem Mandanten und der Versicherung offengelegt werden.
Es wird selten Fälle geben, in denen nach zutreffender Einschätzung der Risiken ein Prozess absolut sichere Aussicht auf Erfolg verspricht, sei es, weil die Beweislage unsicher ist, sei es, weil das Gesetz oder vertragliche Absprachen ungenau sind und Auslegungsfragen offenlassen. Das ist dem juristischen Laien häufig nicht leicht zu vermitteln. Rechtsberater, die Zweifel an der Erfolgsaussicht artikulieren, laufen deshalb Gefahr, vom Mandanten als nicht hinreichend sachkundig, gewieft oder durchsetzungsfähig angesehen zu werden. Ein Anwalt, der deshalb davon absieht, auf bestehende Risiken hinzuweisen, begeht gleichwohl eine Pflichtverletzung, für die er ggf. einzustehen hat, wenn sich das Risiko verwirklicht.
Rz. 182
Der Umstand, dass der Anwalt die Erfolgsaussichten bereits im Auftrag eines anderen Mandanten, etwa der Gesellschafter der später den Auftrag erteilenden Gesellschaft, geprüft hat, lässt die Prüfungspflicht nicht entfallen. Die anwaltsvertraglichen Pflichten eines Rechtsanwalts werden auch nicht dadurch geschmälert, dass mit derselben Angelegenheit noch ein weiterer Rechtsanwalt betraut worden ist. Ebenso wenig wird die Prüfungspflicht eines Rechtsanwalts dadurch eingeschränkt, dass er die zu klärenden Rechtsfragen bereits in einem anderen Mandatsverhältnis untersucht hat. Es entbindet einen Rechtsanwalt grundsätzlich auch nicht von seiner Beratungspflicht ggü. einem einzelnen Mandanten, wenn dieser durch Vermittlung eines Dritten an den Anwalt herantritt, um sich an einer von diesem vorbereiteten "Sammelklage" zu beteiligen. Der Rechtsanwalt ist der Pflicht zur Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage schließlich nicht deshalb enthoben, weil die Geschäftsführer der Mandantin selbst Rechtsanwälte sind, selbst dann nicht, wenn diese Mitglieder der beauftragten Sozietät sind. Die rechtliche Bearbeitung des ihm anvertrauten Falles obliegt dem Rechtsanwalt auch im Verhältnis zu einem rechtskundigen Mandanten. Der anwaltsvertragliche Anspruch des Mandanten auf umfassende Beratung wird nicht dadurch eingeschränkt, dass der Mandant die gerade einem Dritten in Auftrag gegebene rechtliche Prüfung auch selbst hätte vornehmen können.
Rz. 183
Der Rechtsanwalt muss die Erfolgsaussichten des Begehrens seines Mandanten umfassend prüfen und den Mandanten hierüber belehren. Dazu hat er dem Auftraggeber den sichersten und gefahrlosesten Weg vorzuschlagen und ihn über mögliche Risiken aufzuklären, damit der Mandant zu einer sachgerechten Entscheidung in der Lage ist. Da der Rechtsanwalt die Prozessaussicht zugunsten seiner Partei so umfassend wie mögl...