Rz. 188
Der Inhalt der Pflicht, über das Prozessrisiko aufzuklären, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Wie bereits dargelegt, reicht eine nur allgemein gehaltene Aussage nicht aus. Der Rechtsanwalt muss konkret beschreiben, woraus sich das Prozessrisiko ergibt:
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So kann etwa die Zulässigkeit der Klage zweifelhaft sein, weil unsicher ist, ob die deutschen Gerichte oder ob ausländische Gerichte international zuständig sind. |
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Das Gleiche gilt, wenn unsicher ist, ob ein ordentliches Gericht oder ein Schiedsgericht zur Streitentscheidung berufen ist. |
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Unsicherheiten können sich daraus ergeben, dass eine Rechtsfrage noch nicht höchstrichterlich entschieden ist oder von der Bewertung der Umstände des Einzelfalls abhängt. |
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Zweifel bestehen häufig deshalb, weil es streitentscheidend auf die Auslegung einer Willenserklärung, etwa eines Testaments, oder einer vertraglichen Vereinbarung ankommt. |
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In vielen Fällen ist der Ausgang eines Rechtsstreits nicht genau vorherzusagen, weil der Sachverhalt nicht hinreichend sicher feststeht und von ungewissen Zeugenaussagen oder Sachverständigengutachten abhängt. Kann der Mandant nicht schlüssig darlegen und beweisen, dass eine Pflichtverletzung seines Prozessanwalts in einem Vorprozess vorlag, die für den vom Mandanten geltend gemachten Schaden kausal geworden ist, handelt der mit dem Regressmandat beauftragte Rechtsanwalt pflichtgemäß, wenn er dem Mandanten von einer Schadensersatzklage gegen den früheren Prozessanwalt abrät. |
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Bei der Entscheidung, ob ein Rechtsstreit einzuleiten ist, können schließlich außerrechtliche Erwägungen zu berücksichtigen sein. Aus wirtschaftlicher Sicht ist zu prüfen, ob damit gerechnet werden kann, dass aus einem Titel in das Vermögen des Schuldners mit Erfolg vollstreckt werden kann. Auch ist mit dem Auftraggeber zu erörtern, ob – etwa zur Substanziierung eines Schadensersatzanspruchs – Geschäftsgeheimnisse oder -verbindungen offen gelegt werden müssen. |
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Ist die Klageforderung sicher verjährt, muss der Anwalt von der Klageerhebung abraten, es sei denn, es bestehen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich der Prozessgegner hierauf nicht berufen wird. Dann kann nach entsprechender Belehrung des Mandanten gleichwohl ohne Pflichtverletzung geklagt werden. |
Rz. 189
An den vorbeschriebenen Aufklärungs- und Beratungspflichten ändert sich nichts, wenn eine Klage nur deshalb erhoben werden soll, um Zeit zu gewinnen oder die Position bei Vergleichsverhandlungen zu verbessern. Ein Anliegen des Mandanten, die Erfüllung eines Anspruchs um jeden Preis zu verzögern, deckt nicht kostspielige sinnlose Verzögerungsmaßnahmen, wenn aussichtsreichere Möglichkeiten bestehen.
Rz. 190
Besonderheiten sind zu beachten, wenn der geltend zu machende Anspruch zu verjähren droht (zu der Pflicht, Ansprüche des Auftraggebers gegen Verjährung zu sichern, siehe Rdn 160–177). Nach entsprechender Aufklärung des Mandanten kann es wegen der irreversiblen Folgen der Verjährung gem. § 214 Abs. 1 BGB erforderlich sein, auch bei einem größeren Prozessrisiko zur Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens und damit zu einer Hemmung der Verjährung gem. § 204 BGB zu raten. Ist der Rechtsanwalt nach Prüfung der Rechtslage der Ansicht, eine Klageerhebung schließe für den Mandanten ein zu großes Prozessrisiko ein, weil der Anspruch wahrscheinlich schon verjährt sei, muss er seinen Auftraggeber innerhalb einer kurzen, allenfalls nach Tagen zu bemessenden Frist auf seine Bedenken hinweisen und die Rechtslage mit ihm erörtern. Soweit eine aussichtsreiche Klage noch vorprozessuale rechtsgeschäftliche Erklärungen der Partei erfordert, etwa eine Mahnung, Kündigung, Fristsetzung oder Anfechtung, muss der Rechtsanwalt seinen Auftraggeber darauf hinweisen und auf die fristgemäße Abgabe dieser Erklärungen hinwirken.