Rz. 298
Die Aufnahme eines Widerrufsvorbehalts in einen Vergleich ist zu empfehlen, wenn der Rechtsanwalt den Mandanten über die Vor- und Nachteile des in Aussicht genommenen Vergleichs nicht mehr ausreichend aufklären oder dessen Entscheidung vor Abschluss des Vergleichs nicht einholen kann. Bei einem in einen Vergleich aufgenommenen Widerrufsvorbehalt handelt es sich i.d.R. um eine aufschiebende bzw. auflösende Bedingung (§ 158 BGB) oder um ein vertragliches Rücktrittsrecht (§§ 346 ff. BGB). Ein Widerruf muss rechtzeitig, ggü. der richtigen Stelle und formgerecht erklärt werden. Hierfür ist die widerrufende Partei regelmäßig beweisbelastet. Deshalb sollte in dem Vergleich auch insoweit auf eine eindeutige Regelung geachtet werden.
Rz. 299
Wenn ein Rechtsanwalt einen Vergleich widerruft, muss er die vereinbarte Widerrufsfrist einhalten. Die Fristberechnung richtet sich nach §§ 187 Abs. 1, 188, 193 BGB. Die Frist beginnt – soweit nichts anderes vereinbart ist – am Tag des Vergleichsschlusses, nicht an dem Tag, an dem das Sitzungsprotokoll dem Prozessbevollmächtigten zugeht. Die Frist endet am letzten Tag der Frist. Um jeglichen Irrtum bei der Frist auszuschließen ist es zweckmäßig und üblich, den Ablauf der Frist nach dem Kalender zweifelsfrei zu bestimmen. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist bei vertraglichen Fristen weder gem. § 233 ZPO noch in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift möglich.
Rz. 300
Aus der anwaltlichen Pflicht, den nach den Umständen für den Mandanten sichersten Weg zu gehen (vgl. Rdn 114–128), wird gefolgert, dass ein Rechtsanwalt, der einen Prozessvergleich widerrufen soll, Maßnahmen zu ergreifen hat, die nach allgemeiner Voraussicht den rechtzeitigen Eingang des Widerrufs in beweisbarer Form sicherstellen. Ist genügend Zeit vorhanden, kann der Widerruf durch Einschreiben mit Rückschein erklärt werden. In Eilfällen kommt ein Widerruf durch Telefax in Betracht. Der Widerruf kann aber auch schriftlich durch Boten oder mit der Post übermittelt werden, sofern hierbei die Rechtzeitigkeit des Eingangs eindeutig festgestellt werden kann. Als Nachweis kann grds. auch eine telefonische Eingangsbestätigung des Empfängers des Schreibens dienen; sie kann grds. von einer zuverlässigen Rechtsanwaltsgehilfin eingeholt werden. Der Zeitpunkt, zu dem der Widerruf erklärt werden muss, hängt entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab. Insoweit lässt sich der Grundsatz, dass die Parteien ggü. dem Gericht Fristen bis zum letzten Tag ausschöpfen dürfen, auf das Innenverhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandanten nicht ohne weiteres übertragen; dem Rechtsanwalt können weitergehende Rechtspflichten obliegen. Steht der Wunsch des Auftraggebers, einen Vergleich frühzeitig zu widerrufen, endgültig fest, hat der Rechtsanwalt dem – vorbehaltlich des § 665 BGB – zu entsprechen. Andernfalls ist er – insb. wenn er die vergleichsweise getroffene Regelung im Interesse seines Mandanten für sachgerecht hält – nicht gehindert, die vereinbarte Überlegungsfrist auszuschöpfen, um einen noch unentschlossenen Mandanten von den Vorzügen des Vergleichs zu überzeugen.
Rz. 301
Der Widerruf muss ggü. der zuständigen Stelle erklärt werden. Beim Abschluss eines Vergleichs steht den Parteien das Recht zu, den Adressaten eines Widerrufs festzulegen; dies kann auch stillschweigend geschehen. In Rechtsprechung und Schrifttum war umstritten, ob dann, wenn eine Regelung des Widerrufsadressaten im Vergleich fehlt, der Widerruf dem Gegner gem. § 130 BGB zugehen oder ggü. dem Prozessgericht erfolgen muss bzw. wahlweise entweder ggü. dem Gegner oder dem Prozessgericht erklärt werden kann.
Jedenfalls für Prozessvergleiche, die seit dem 1.1.2002 geschlossen werden, kann der Prozessvergleich wirksam sowohl ggü. dem Gericht als auch der anderen Vertragspartei ggü. erklärt werden, wenn die Parteien davon keine abweichende Vereinbarung getroffen haben. Unsicherheiten wurden und werden vermieden, indem bei der Vereinbarung des Widerrufsvorbehalts festgelegt wird, dass ein Widerruf nur oder auch ggü. dem Prozessgericht zu erfolgen hat. Hierauf hat der Anwalt hinzuwirken.
Rz. 302
Ein Rechtsanwalt muss schließlich dafür sorgen, dass ein Vergleich formgerecht widerrufen wird. Der Widerruf kann grds. formfrei erfolgen, es sei denn, dass etwas anderes vereinbart ist. Letzteres ist – schon wegen des Grundsatzes des sichersten Weges – dringend anzuraten (etwa: "… mittels eines Schriftsatzes widerrufen werden, der bis spätestens … bei Gericht eingegangen sein muss."). Bei Prozessen mit Anwaltszwang muss der Widerruf ggü. dem Gericht durch den Anwalt erfolgen.