Rz. 246
Auf einen gerichtlichen Hinweis gem. § 139 ZPO, etwa wegen Bedenken gegen die Schlüssigkeit einer Klage, die Erheblichkeit einer Verteidigung, wegen nicht ausreichender Substanziierung des Vortrags oder wegen fehlender Beweisantritte, war es schon immer geboten, Vertagung zu beantragen (§ 227 ZPO). Erteilt ein Gericht einen Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung, darf es nicht entscheiden, ohne zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Kann der Anwalt – ggf. nach einer Unterbrechung der Verhandlung – sich nicht sofort äußern, muss er eine spätere Gelegenheit einfordern und entweder Vertagung oder Schriftsatzfrist verlangen. Zwar hat das Gericht in Fällen, in denen der Anwalt zum ergänzenden Vortrag Auskünfte der nicht anwesenden Partei benötigt, auch ohne Antrag auf geeignete Weise Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Gleichwohl hat der Anwalt in solchen Fällen von sich aus nach den Grundsätzen des sichersten Weges Schriftsatzfrist zu beantragen.
Ausnahmsweise kann es sogar ratsam sein, "in die Säumnis zu fliehen", die Klage zu erweitern bzw. eine Widerklage zu erheben. Dies kann insb. dann geboten sein, wenn eine Nachholung des gebotenen Vortrags im Termin nicht möglich ist und eine Zurückweisung als verspätet (§ 296 ZPO) droht. Allerdings kann das Unterlassen der "Flucht in die Säumnis" eine Haftung des Rechtsanwalts nur dann begründen, wenn dadurch eine Zurückweisung des verspäteten Vorbringens vermieden worden wäre.
Mögliche und gebotene, aber unterlassene Hinweise des Gerichts entheben den Rechtsanwalt nicht seiner eigenen Pflicht zu ausreichendem Vortrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht.
Rz. 247
Des Weiteren muss der Rechtsanwalt, wie bei der Vorbereitung der Verhandlung durch Schriftsätze, Fehlern des Gerichts entgegenwirken, wenn das Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts Fragen stellt oder Hinweise zur rechtlichen Bewertung gibt (vgl. Rdn 237–240). Der Anwalt muss alles tun, um das rechtliche Gehör des Mandanten zu schützen. Er muss ggf. Vertagungsantrag stellen und Schriftsatzfrist beantragen, wenn auf neuen Sachvortrag der Gegenseite nicht sofort substanziiert eingegangen werden kann. Der prozessbevollmächtigte Rechtsanwalt kann z.B. seine Pflichten verletzen, wenn er auf Rat des Gerichts eine Klage zurücknimmt, ohne zuvor auf die vom Gericht nicht hinreichend gewürdigte höchstrichterliche Rechtsprechung hingewiesen und versucht zu haben, das Gericht davon zu überzeugen, dass die in der mündlichen Verhandlung vertretene Rechtsansicht unzutreffend ist. Außerdem darf er die Klage nur mit Zustimmung seines Mandanten zurücknehmen. Die Zustimmung kann nach Beratung über die Erfolgsaussichten unter Berücksichtigung der Hinweise ausdrücklich oder vor der mündlichen Verhandlung nach Maßgabe von deren Verlauf vorab pauschal erteilt worden sein. Liegt keine Einwilligung vor, ist im Regelfall davon auszugehen, dass eine beauftragte Klage auch durchgeführt werden soll. Im Übrigen gelten die für den Berufungsanwalt von der Rechtsprechung bereits entschiedenen Grundsätze entsprechend. Anderes kann gelten, wenn sich das Gericht ersichtlich festgelegt hat und ein Rechtsmittel unzweifelhaft nicht zulässig ist. Dann kann die Klagerücknahme aus Kostengründen sogar geboten sein (vgl. Rdn 248).
Den Berufungsanwalt trifft die Pflicht, eine vom Gericht im Verlauf der Instanz vertretene Rechtsansicht im Interesse seines Mandanten zu überprüfen, selbst wenn sie durch Nachweise von Rechtsprechung und Schrifttum belegt ist. Der Berufungsanwalt darf dem Anraten, das Rechtsmittel zurückzunehmen, deshalb nicht folgen, ohne dass sein Mandant über die Möglichkeiten der Prozessordnung, gegen die vorläufige Auffassung des Gerichts sprechende tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte in der Instanz oder durch ein Rechtsmittel zur Geltung zu bringen, so aufgeklärt worden ist, dass er die wägbaren Prozessaussichten beurteilen kann. Eine Rechtsansicht des Gerichts kann unrichtig oder überholt sein. Kommt ein solcher Fehler des Gerichts in Betracht, muss der Prozessanwalt die Möglichkeiten der Verfahrensordnung nutzen, um die zugunsten seines Mandanten sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend zur Geltung zu bringen, wie die Umstände es zulassen. Der Schutz des Mandanten gebietet es, dass diese Tatsachen und Argumente bei der gerichtlichen Entscheidung berücksichtigt werden können. Unterbleibt eine solche Einwirkung auf das Gericht, weil der Mandant einer Rücknahme des Rechtsmittels zustimmt, so handelt der Prozessanwalt nur dann pflichtmäßig, wenn er zuvor den Mandanten zutreffend über die verbleibenden Möglichkeiten aufgeklärt hat, in der Instanz oder durch ein Rechtsmittel den Prozess zu einem günstigeren Ende zu bringen. Der Mandant muss gerade in einer solchen kritischen Lage die wägbaren Prozessaussichten beurteilen können.
Der Anwalt ist in einem solchen Fall nicht deshalb entschuldigt, weil ein mit drei Berufsrichte...