Rz. 414
BGH, Urt. v. 22.1.2013 – VI ZR 175/11, VersR 2013, 460
Zitat
SGB VII §§ 106 Abs. 3 Alt. 3, 108 Abs. 1
1. |
Zum Vorliegen der "Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation" als Voraussetzung einer gemeinsamen Betriebsstätte. |
2. |
Eine Bindung gemäß § 108 Abs. 1 SGB VII besteht nicht hinsichtlich der Frage, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt. |
1. Der Fall
Rz. 415
Die Klägerin machte als Berufsgenossenschaft und zuständiger Unfallversicherer für das Unternehmen G. Bau GmbH & Co. KG Schadensersatzansprüche aus einem Unfall des bei ihr versicherten und bei dem vorgenannten Unternehmen beschäftigten Geschädigten geltend.
Rz. 416
Die G. Bau GmbH & Co. KG war damit beauftragt, Straßenbauarbeiten auf einer Baustelle am Ende der Straße "Zum Sand" durchzuführen. Der Geschädigte führte am Unfalltag Teer- und Asphaltierarbeiten durch. Der Beklagte zu 2 war bei der Beklagten zu 1 beschäftigt. Er hatte den Auftrag, benötigtes Füllgut mit einem bei der Beklagten zu 3 haftpflichtversicherten Lkw anzuliefern, dessen Halterin die Beklagte zu 1 war.
Rz. 417
Der Beklagte zu 2 fuhr mit dem mit Bitumen und Teer beladenen Lkw rückwärts in die Straße "Zum Sand" ein. Das Ladegut sollte auf der am Ende der Straße gelegenen Baustelle abgeliefert werden. Dazu setzte der Beklagte zu 2 mehrere hundert Meter auf der schmalen Straße zurück, ohne sich eines Einweisers zu bedienen. Dabei übersah er zwei am rechten Fahrbahnrand geparkte Lkw und fuhr auf den einen auf, der gegen den dahinter abgestellten Lkw geschoben wurde. Zwischen diesen beiden Lkw stand der Geschädigte. Er wurde eingequetscht und erlitt schwere Verletzungen.
Rz. 418
Die Klägerin begehrte Ersatz der für den Geschädigten erbrachten Aufwendungen und Feststellung, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, die weiter entstandenen und zukünftig entstehenden Aufwendungen aus dem Arbeitsunfall zu ersetzen.
Rz. 419
Das LG hat der Klage weitgehend stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG die Klage abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgte die Klägerin ihre Ansprüche weiter.
2. Die rechtliche Beurteilung
Rz. 420
Das Berufungsurteil hielt einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Das LG hatte der Klägerin zu Recht gemäß § 116 Abs. 1 SGB X, §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB i.V.m. § 9 Abs. 5 StVO den geltend gemachten Anspruch zugesprochen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts lag keine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte i.S.d. § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII vor, welche eine Haftungsprivilegierung nach §§ 104, 105 SGB VII oder nach den Grundsätzen des gestörten Gesamtschuldverhältnisses rechtfertigen könnte.
Rz. 421
Nach der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats erfasst der Begriff der "gemeinsamen Betriebsstätte" betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Betriebsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein. § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII ist nicht schon dann anwendbar, wenn Versicherte zweier Unternehmen auf derselben Betriebsstätte aufeinandertreffen. Eine "gemeinsame" Betriebsstätte ist nach allgemeinem Verständnis mehr als "dieselbe" Betriebsstätte; das bloße Zusammentreffen von Risikosphären mehrerer Unternehmen erfüllt den Tatbestand der Norm nicht. Parallele Tätigkeiten, die sich beziehungslos nebeneinander vollziehen, genügen ebenso wenig wie eine bloße Arbeitsberührung. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation, die eine Bewertung als "gemeinsame" Betriebsstätte rechtfertigt.
Rz. 422
Zwar legte das Berufungsgericht der Prüfung die zutreffende Definition der gemeinsamen Betriebsstätte i.S.d. § 106 Abs. 3 Fall 3 SGB VII zugrunde. Es gab auch zutreffend die Merkmale wieder, die nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats für die "gemeinsame" Betriebsstätte prägend sind. Das Berufungsgericht ließ aber außer Betracht, dass im Streitfall die Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation fehlte, die die "gemeinsame Betriebsstätte" entscheidend kennzeichnet. Die Beurteilung, ob in einer Unfallsituation eine "gemeinsame" Betriebsstätte vorlag, muss sich auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen und knüpft daran an, dass eine gewisse Verbindung zwischen den Tätigkeiten als solchen in der konkreten Unfallsituation gegeben ist.
Rz. 423
Eine solche Verbindung zwischen den Tät...