Rz. 13
Neben der rechtstatsächlichen Frage nach einem Wandel der Zusammensetzung der Erbengemeinschaften steht die nach dem Wandel des Charakters der Personengruppe, ohne dass die einzelnen "Typen" von Mitgliedern sich geändert hätten. Es geht besonders um Erbengemeinschaften, die aus Mitgliedern einer Familie bestehen. Sie entstehen regelmäßig bei Eintritt der gesetzlichen Erbfolge. Aber auch Testierende bedenken oft ihre Verwandten.
So kann die These aufgestellt werden, dass aufgrund eines Wandels des Familienverständnisses und des Verhaltens von Familienmitgliedern untereinander sich auch die Interaktion in einer Erbengemeinschaft, in der Familienmitglieder verbunden sind, geändert hat.
Unter Interaktion soll dabei jede Form der Kommunikation zwischen den Personen und ebenfalls das Handeln einer Person, das auch andere Mitglieder der Erbengemeinschaft, deren Rechtspositionen oder die Gemeinschaft insgesamt betrifft, verstanden werden.
Rz. 14
Es geht etwa um folgende Fragen: Wird die Auseinandersetzung pragmatischer und/oder kompromissloser geführt, weil die familiären Bindungen an Enge verloren haben? Werden eher Rechtsanwälte eingeschaltet, mehr Prozesse geführt? Wird schneller auf eine Auseinandersetzung des Nachlasses gedrängt?
Diese Fragen sind nicht nur rein wissenschaftlich, sondern auch in der Praxis interessant, etwa für Rechtsanwälte, welche den Markt an Mandanten und die Konfliktfreudigkeit der beteiligten Personen besser einschätzen könnten. Auch für die Ausrichtung von Mediationsverfahren können Antworten auf die Fragen hilfreich sein. Es könnten die Schwerpunkte der Ausbildung der Mediatoren und der Planung der Verfahren von der Klärung persönlicher zu der wirtschaftlicher Fragen zu verschieben sein. Interessant ist auch die Cooperative Praxis, bei welcher die Parteien von Beratern vertreten werden, aber unter den Grundsätzen der Mediation verhandelt wird. Die rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte werden also besser beachtet unter der Maßgabe, dass eine Auseinandersetzung einer Erbengemeinschaft ohne eine Einigung kaum sinnvoll möglich ist.
Rz. 15
Die Prüfung der These ist allerdings aufwendig. Zunächst müssten ihre Grundlagen überprüft werden: Gab es einen Wandel des Familienverständnisses und des Verhaltens von Familienmitgliedern untereinander? Neben einer räumlichen muss auch eine zeitliche Eingrenzung erfolgen. So könnten etwa die Gegebenheiten im Geltungsbereich des BGB zur Zeit seines Inkrafttretens und heute oder in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland und heute verglichen werden. Zudem sind genaue Definitionen des Begriffes "Familienverständnis" und dem Untersuchungsgegenstand "Verhalten von Familienmitgliedern untereinander" notwendig.
Rz. 16
Ob dann ein Wandel in der angenommenen Form bestätigt werden kann, ist fraglich. So äußert sich Schwägler kritisch zu der "These von der Dichotomie in Groß- und Kleinfamilie". Sie laute, dass die Geschichte der Menschheit mit einem "Familiengeist" begonnen und mit dessen Niedergang enden würde. Die Großfamilie entwickle sich zur Kleinfamilie, verwandtschaftliche Beziehungen würden sich lösen. Schwägler differenziert zeitlich und hinsichtlich sozialer Gruppen. So habe es "Kernfamilien" auch schon vor der Industrialisierung gegeben. Nave-Herz ergänzt, dass der Umfang an Drei- und sogar Vier-Generationenfamilien auch aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung "ein völlig neues soziales Phänomen" sei.
Die Frage nach einer Entwicklung von der Groß- zur Klein- oder Kernfamilie kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Es kann nur festgestellt werden, dass schnelle und undifferenzierte Aussagen nicht möglich sind, landläufige "Allgemeinplätze" wissenschaftlich überprüft werden müssen.
Einen Ansatz können vorhandene allgemeine Daten der Demographie bieten. Bauer verneint bei seinen differenzierenden, auf solchen Daten basierenden Untersuchungen die Relevanz einer Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie. Er bestätigt aber einen Wegfall der Mehr-Kinder-Familie aufgrund des Geburtenrückganges seit Mitte der 1960er Jahre und die spätere Zunahme so genannter "unvollständiger Familien" unterschiedlicher Ausprägung: die kinderlose Ehe, die Ein-Eltern- und die binukleare Familie (in denen die Eltern Kinder trotz Trennung weiter gemeinsam erziehen). Hinzu träten die "äußerlich vollständigen" Stieffamilien.
Rz. 17
Lüscher stellte einige Daten zusammen. So stieg etwa im alten Bundesgebiet die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften insgesamt zwischen 1991 und 2001 um 37 %, die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern um 55 %. Die Zahl der Ehescheidungen steigt kontinuierlich. Auch Prognosen können erstaunliche Ergebnisse liefern: In der Gruppe der 65–79 Jahre alten Personen wird zwischen den Jahren 2000 und 2040 ein großer Anstieg des Anteils der ledigen und geschiedenen Männern erwartet, aber auch ein starker Rückgang bei den Partnerschaften, die ohne Kinder blieben.
Ergänzt...