Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 261
Wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 OEG). Soweit den Versorgungsberechtigten ein gesetzlicher Anspruch auf Ersatz des ihnen durch die Schädigung verursachten Schadens gegen Dritte zusteht, geht dieser Anspruch im Umfang der durch dieses Gesetz begründeten Pflicht zur Erbringung von Leistungen auf den Bund über (§ 81a BVG). Ist ein Land Kostenträger, so gilt § 81a BVG mit der Maßgabe, dass der gegen Dritte bestehende gesetzliche Schadensersatzanspruch auf das zur Gewährung der Leistungen verpflichtete Land übergeht (§ 5 OEG). Reicht der Grad der Schädigungsfolgen für einen Anspruch auf Gewährung von Beschädigtenrente (vgl. §§ 29 ff. BVG) nicht aus, hat der Beschädigte einen Anspruch auf isolierte Feststellung (Anerkennung) von Schädigungsfolgen, die als eigenständiger begünstigender Verwaltungsakt Grundlage für weitere Ansprüche oder Rechtsfolgen, z.B. Ansprüche auf Heilbehandlung wegen der anerkannten Folgen einer Schädigung, sein kann.
Rz. 262
Opfer vorsätzlicher Taten erhalten also einen ähnlichen Schutz wie gesetzlich Unfallversicherte. Für die Bemessung des Anspruchs ist auch hier die Minderung der Erwerbsfähigkeit maßgeblich, die allerdings jetzt als "Grad der Schädigungsfolgen (GdS)" bezeichnet wird (vgl. § 30 BVG n.F.). Im Tötungsfall bestehen Ansprüche auf Bestattungsgeld, Sterbegeld und Hinterbliebenenrente (§§ 36 ff. BVG). Das OEG enthält also keine zivilrechtliche Anspruchsgrundlage. Für die Schadensregulierung ist die gesetzliche Regelung gleichwohl nicht ohne Bedeutung. So hat das BSG entschieden, dass ein als vorsätzliche Körperverletzung strafbarer ärztlicher Eingriff – Schönheitsoperation ohne die erforderliche Einwilligung der Patientin – dann ein tätlicher Angriff im Sinne des OEG ist, wenn er aus der Sicht eines verständigen Dritten in keiner Weise dem Wohle des Patienten dient. Als unmittelbare Schädigung im Sinne des Opferentschädigungsrechts kann auch eine solche angesehen werden, die einen gesundheitlichen Schaden – Schockschaden – aufgrund des Erhalts der Nachricht über einen vorsätzlichen, rechtswidrigen Angriff verursacht hat.
Rz. 263
Sofern die Voraussetzungen des OEG zu bejahen sind, wird wegen des Anspruchsübergangs auf den Versorgungsträger im Rahmen des kongruenten Leistungsspektrums die Aktivlegitimation des Geschädigten zur Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche gegen den Schädiger selbst fehlen. Der BGH hat entschieden, dass das Familienprivileg des § 116 Abs. 6 SGB X auch für den Forderungsübergang gemäß § 5 Abs. 1 OEG, § 81a Abs. 1 S. 1 BVG gilt.
Rz. 264
Auch bei Verkehrsunfällen kann (bedingter) Vorsatz z.B. bei einer undisziplinierten, mit Provokationen verbundenen Fahrweise zu bejahen sein. Gemäß § 103 VVG (§ 152 VVG a.F.) ist der Haftpflichtversicherer in diesem Fall von der Leistung frei und auch die Vorleistungspflicht des Krafthaftpflichtversicherers entfällt.
Rz. 265
§ 1 Abs. 11 OEG bestimmt allerdings, dass das OEG nicht anzuwenden ist auf Schäden aus einem tätlichen Angriff, die von dem Angreifer durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verursacht worden sind. Hier kann die Verkehrsopferhilfe eintreten (vgl. § 12 PflVG). Die Verkehrsopferhilfe hilft Verkehrsopfern in der Funktion als Garantiefond bei Unfällen in Deutschland, die durch nicht ermittelte oder nicht versicherte Kraftfahrzeuge verursacht werden oder in denen das Auto vorsätzlich und widerrechtlich als "Tatwaffe" eingesetzt wird oder der Autohaftpflichtversicherer insolvent wird. Außerdem hilft sie Verkehrsopfern bei Unfällen im Ausland in der Funktion als Entschädigungsstelle nach der 4. KH-EG-Richtlinie. Die endgültige Schadenbearbeitung erfolgt im Auftrag der Verkehrsopferhilfe entweder durch in Deutschland zugelassene Autohaftpflichtversicherer oder in Untervollmacht für diese durch Schadenregulierungsbüros.
Rz. 266
Ab 2022 soll das Recht der sozialen Entschädigung, auch soweit es jetzt im OEG geregelt ist, im Sozialgesetzbuch Vierzehntes Buch (SGB XIV) neu geregelt werden. Teile des Gesetzes sollen bereits rückwirkend in Kraft treten.