Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 318
Nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur ist auf einer Baustelle primär der einzelne Bauunternehmer verkehrssicherungspflichtig. Er ist verkehrssicherungspflichtig, weil er mit seinen Bauarbeiten die Gefahrenquelle unmittelbar schafft und die notwendigen und zumutbaren Sicherungsmaßnahmen ergreifen kann. Einen mit der örtlichen Bauaufsicht, Bauleitung oder Bauüberwachung beauftragten Architekten trifft – ebenso wie den ihn beauftragenden Bauherren – lediglich eine sogenannte sekundäre Verkehrssicherungspflicht, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Unternehmer in dieser Hinsicht nicht genügend sachkundig oder zuverlässig ist, wenn er Gefahrenquellen erkannt hat oder wenn er diese bei gewissenhafter Beobachtung der ihm obliegenden Sorgfalt hätte erkennen können.
Rz. 319
Grundsätzlich nicht sicherungspflichtig ist der mit der Ausführung der einzelnen Arbeiten befasste Arbeitnehmer. Allerdings kann auch ein Beschäftigter des Unternehmers verkehrssicherungspflichtig sein, wenn dieser am Bau eine solche Leitungsfunktion ausübt, dass er dadurch in seinem Arbeitsbereich faktisch den Unternehmer ersetzt. Als solche Beschäftigte kommen der Polier des Rohbauunternehmers oder der Schachtmeister in Betracht, wenn sie den Bau in eigener Verantwortung leiten. Der Subunternehmer, der zur Durchführung der Bauarbeiten eingeschaltet wird, ist im Allgemeinen kein Verrichtungsgehilfe des Bauunternehmers.
Rz. 320
Aus der Eröffnung eines nur beschränkten Verkehrs auf der Baustelle folgt nur eine beschränkte Verkehrssicherungspflicht. Zum geschützten Personenkreis gehören jedenfalls diejenigen, die sich befugt auf der Baustelle aufhalten. Dies sind die eigenen Betriebsangehörigen, natürlich auch Dritte wie Passanten, Baustellenbesucher, Baustofflieferanten, andere Handwerker, Mieter des Bauherrn und Nachbarn. Steht die Baustelle nur einem beschränkten Personenkreis offen, der mit den üblichen Gefahren der Baustelle vertraut ist – wie Handwerkern oder Lieferanten –, bestehen Verkehrssicherungspflichten nur in beschränktem Umfang. Die Verkehrssicherungspflicht besteht aber auch gegenüber solchen Personen, die sich unbefugt auf der Baustelle aufhalten, wenn nach den konkreten Umständen mit ihnen gerechnet werden muss (siehe oben Rdn 273). Gegenüber Erwachsenen, die unbefugt die Baustelle betreten, ist sie in der Regel mit der Aufstellung von Verbotsschildern erfüllt. Strengere Maßstäbe gelten, wenn mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass Kinder die Baustelle betreten und dort spielen. Erfahrungsgemäß missachten Kinder Zutrittsverbote, weil sie deren Bedeutung oder die ihnen drohenden Gefahren nicht hinreichend einschätzen können. Darauf, dass die Eltern ihrer Aufsichts- und Erziehungspflicht nachkommen und die Kinder die Verbote der Eltern befolgen, darf sich der Pflichtige nicht verlassen. Keine Haftung besteht aber demjenigen gegenüber, den der Verkehrssicherungspflichtige mit der Absicherung der Baustelle beauftragt hat.
Rz. 321
Den einschlägigen DIN-Normen kommt eine besondere Bedeutung für die Bestimmung der Verkehrssicherungspflicht zu, da sie die aktuellen Standards zur Gewährleistung der Verkehrssicherheit zusammenfassen. Unfallverhütungsvorschriften sind zwar keine Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, sie geben aber den Mindestinhalt der den Unternehmer treffenden Verkehrssicherungspflicht vor, konkretisieren die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (vgl. Rdn 279) und begründen bei ihrer Verletzung einen Anscheinsbeweis für die Ursächlichkeit des Verstoßes für Unfälle, die sich im Einwirkungsbereich der Gefahrenstelle ereignet haben.
Rz. 322
Nach der Rechtsprechung des BGH sind "sowohl auf die Werkleistungen des Architekten als auch auf diejenigen des Bauunternehmers haftungsrechtlich im Kern dieselben Grundsätze anzuwenden, die für die Herstellung und den Vertrieb von Produkten gelten, die zur Abwehr bestimmter Gefahren in den Verkehr gegeben, in dieser Funktion aber untauglich sind". Es ist daher im Einzelfall zu prüfen, ob der Bauleitung auch die Aufgabe zukommt, Gefahren von absoluten Rechtsgütern abzuwenden. Eine Haftung des Bauunternehmers kann sich auch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Vorschriften der Landesbauordnungen ergeben, soweit diese die Verkehrssicherungspflicht näher ausgestalten.
Rz. 323
Die Verkehrssicherungspflicht endet, wenn die Baustelle geräumt und dem allgemeinen Verkehr wieder zugänglich gemacht ist. Sie dauert aber an, wenn die Baustelle in verkehrsunsicherem Zustand verlassen wurde, und zwar so lange, bis ein anderer die ausreichende Absicherung der Gefahrenstelle übernommen hat.
Rz. 324
Bei Tiefbauarbeiten werden wegen der großen Gefahren, die durch eine Beschädigung von Strom-, Gas-, Wasser- oder Telefonleitungen verursacht werden können, strenge Anforderungen an die Pflicht zur Erkundigung und Sicherung von unterirdisch verlegten Versorgungsleitungen ...