Karl-Hermann Zoll, Dr. iur. Frank Fad
Rz. 102
Die Rechtswidrigkeit einer Rechtsverletzung kann durch Notwehr ausgeschlossen sein (§ 227 BGB). Notwehr ist diejenige Verteidigung, welche erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen (sog. Nothilfe) abzuwenden (§ 227 Abs. 2 BGB, § 32 Abs. 2 StGB). Dabei ist unter Angriff die von einem Menschen drohende Verletzung rechtlich geschützter Interessen zu verstehen, wobei ein Verschulden des Angreifenden nicht erforderlich ist. Ob ein Verhalten als Angriff zu werten ist, richtet sich nach den Umständen. So kann etwa das provozierende Anrauchen mit zuvor bereits inhaliertem und damit mit Atemluft und Speichelnebel vermengtem Zigarettenrauch gegen das Gesicht des Verteidigers einen rechtswidrigen Angriff gegen die Ehre und die körperliche Unversehrtheit darstellen, die einen Schlag als Abwehrmaßnahme rechtfertigt. Ein Angriff kann auch in dem rechtswidrigen Vorgehen von Behörden zu sehen sein. Dagegen liegt kein Angriff vor, wenn jemand einem anderen aus gegebenem Anlass nachläuft, um ihn zur Feststellung seiner Personalien durch die Polizei zu bewegen. Gegenwärtig ist der Angriff schon vor seinem Beginn, sofern er unmittelbar bevorsteht, es genügt ein Verhalten, das unmittelbar in eine Verletzung umschlagen kann. Der Angriff kann trotz Vollendung des vom Angreifer begangenen Delikts fortdauern und deshalb noch gegenwärtig sein, solange die Gefahr, die daraus für das bedrohte Rechtsgut erwächst, noch abgewendet werden kann, bis sie endgültig in den Verlust umgeschlagen ist. Ein Angriff kann auch vorliegen, wenn jemand, dem eine Sache in erlaubter Selbsthilfe (§ 229 BGB) weggenommen wurde, diese wieder an sich zu bringen versucht. Ein verabredetes Verhalten rechtfertigt nicht die Berufung auf Notwehr.
Rz. 103
Die Verteidigungshandlung des Betroffenen muss erforderlich sein. Ob eine Verteidigungshandlung erforderlich ist, hängt im Wesentlichen von Art und Maß des Angriffs ab. Eine Notwehr- bzw. Nothilfelage liegt vor, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer umfassenden und objektiven Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden. Die Erforderlichkeit einer Verteidigungshandlung kann nur unter Berücksichtigung aller Umstände der objektiven Kampflage bestimmt werden; dabei kommt es maßgeblich auf den konkreten Ablauf von Angriff und Abwehr, auf die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und auf die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen bzw. Nothilfe Leistenden an. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss nur zurückgegriffen werden, wenn deren Abwehrwirkung unter den gegebenen Umständen unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht.
Wenn etwa ein Taxifahrer von einer stark alkoholisierten Person beleidigend und lautstark verbal attackiert wird und der Angreifer mit den Händen auf das Wagendach des Taxis schlägt, sodass von unmittelbar bevorstehenden Handgreiflichkeiten auszugehen ist, darf der Taxifahrer durch Gasgeben die Flucht ergreifen und ist eine Verletzung, die der Angreifer erleidet, weil er sich an dem losfahrenden Taxi festhält, durch Notwehr gerechtfertigt. Auch wer sich gegen Tätlichkeiten verteidigt, die er nicht herausgefordert hat, muss aber jedenfalls menschliches Leben und menschliche Gesundheit so weit wie möglich erhalten. Die Rechtmäßigkeit der Notwehrhandlung ist aber grundsätzlich nicht davon abhängig, dass der Schaden, den der Täter anrichtet, in einem angemessenen Verhältnis zu der ihm drohenden Gefahr steht. Allerdings kann sich der Täter nicht auf Notwehr berufen, wenn sein Verhalten völlig maßlos und deshalb mit dem Rechtsempfinden unvereinbar ist. Umgekehrtes gilt, wenn das Angriffsverhalten maßlos ist: Hat etwa ein Geschädigter den Schädiger aufgefordert, er solle gefälligst die Musik wieder anmachen, da noch gefeiert werde, so besteht kein zu rechtfertigender Grund, ihn mit der Faust ins Gesicht zu schlagen; den Geschlagenen trifft hinsichtlich seiner bei einer nachfolgenden Rangelei entstandenen Schäden kein Mitverschulden, weil er sich auf Notwehr berufen kann. Unter Umständen muss der Verteidiger auch eine Situation vermeiden, in der sein Handeln in Notwehr fremde Rechtsgüter verletzen kann.
Rz. 104
Der Angegriffene ist berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen. Auf ein wenige...